Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
Geldschrank, in dem sich Marco mit hämmerndem Herzen, schmerzhaft verknoteten Gliedmaßen und rotierenden Gedanken um absolute Lautlosigkeit bemühte.Dabei schrie jede Faser in ihm um Hilfe. Und während Pico mit seinen federleichten Schritten das ganze Haus zum Beben brachte, lief bei Marco der Schweiß. Besonders merkte er das am Zeigefinger, der die Tür hielt. Entglitt ihm die Tür, wäre alles aus.
Er hörte, wie Schubladen aufgezogen und zugeschoben und Möbelstücke gerückt wurden. Pico war ein Gründlicher.
»Ist da jemand?«, flüsterte Romeo von seinem Platz an der Verandatür.
»Nein, hier nicht«, antwortete Pico in normaler Lautstärke. »Im Esszimmer auch nicht.«
Jetzt kam er näher und stieß die Türen zu den Zimmern der Frau und des Mädchens auf. Deutlich hörte Marco, wie er gegen ihre Betten trat, sich hinkniete und schließlich mit einem Ruck die Gardinen zur Seite zog.
»Hier auch nicht und auch nicht in der Küche«, rief Pico.
»Schau im Bad nach, in der Duschkabine«, rief Romeo.
Marco spürte den Fußboden unter sich beben. Nur drei Meter von ihm entfernt stand Pico im Flur vor der Badezimmertür. Es war, als würde sich in der nächsten Sekunde sein Röntgenblick durch die offene Bürotür und die stählerne Tresortür geradewegs zu ihm hindurchbohren.
Er weiß, dass ich hier bin!, dröhnte es in Marcos Kopf, während sein Zeigefinger die Angst sammelte und noch feuchter wurde. Und plötzlich konnte er die Tür nicht mehr halten. Langsam glitt sie auf, und helles Licht drang messerscharf durch den Schlitz.
In diesem winzigen Spalt zur Wirklichkeit sah er Picos Füße im Badezimmer verschwinden. Laufschuhe von Adidas, neue, lautlose. Typisch Pico.
Hastig drückte Marco die Tresortür auf. Er musste raus. Irgendwohin, wo Pico schon gewesen war. Aber noch bevor er sich aufrichten konnte, rief Pico aus dem Badezimmer, da seiauch niemand, worauf Marco seine Hand blitzschnell am Pulli abwischte, erneut nach der Stahlkante griff und die Tür wieder zuzog.
Für den Bruchteil einer Sekunde sah er die Spitze des Laufschuhs auf der Schwelle zum Badezimmer, dann war die Tresortür wieder so gut wie zu.
Pico stand jetzt vermutlich auf dem Flur und sah sich um. Marco hatte das Gefühl, dass jeder seiner gepressten Atemzüge klang wie ein undichter Blasebalg. Dass sein Körper gleich explodierte. Wie Brocken aus glühendem Metall prasselten alle Träume von Freiheit und einem selbstbestimmten Leben auf ihn nieder. Jetzt war die Realität am Zug.
Er hörte, wie die Füße dort draußen ein paar weitere Schritte vorwärts taten, und spürte wieder diesen Röntgenblick. Pico hatte das Büro betreten und stand jetzt so dicht vor dem Tresor, dass sich die Falten seiner Hosenbeine fast in den Spalt legten. Den Geräuschen nach zu urteilen, durchwühlte er das Regal über dem Geldschrank.
Mit sich selbst redend, schob er Bücher auf dem Regal hin und her. Dabei fiel eins der Bücher mit einem Knall auf den Boden, direkt vor den Geldschrank. Marco hielt die Luft an. Wenn Pico seinen Herzschlag jetzt nicht hörte, musste er taub sein.
Er sah den Arm, der sich nach dem Buch streckte, sah ihn der Stahltür gefährlich nahe kommen – und dann sah er nichts mehr, sondern spürte nur noch. Spürte, wie Picos Hand beim Versuch, das Buch aufzuheben, gegen die Safetür stieß und wie er selbst die Innenkante der Tür nicht mehr halten konnte. Mit einem Schlag war der Lichtspalt wieder da, gefährlich breit. Pico beugte die Knie. Gleich würde er vor dem Geldschrank hocken und ihn öffnen.
In diesem alles entscheidenden, diesem völlig wahnsinnigen Augenblick, als Marco schon erwog, sich freiwillig zu ergeben, damit sie vielleicht ein Fünkchen Gnade zeigten, ertönte ein durchdringender Vogelruf und Pico erstarrte.
»Pico, schnell! Schnapp dir das Foto und komm!«, rief Romeo von draußen.
Picos Antwort war ein Spurt durch Flur und Wohnzimmer, dann hörte Marco splitterndes Glas und die Verandatür, die gegen die Hausmauer knallte.
Danach war es still. Der Vogelruf des Typen im Vorgarten hatte die Aktion beendet. Offenbar näherte sich jemand dem Haus.
Wie ein zusammengepresster Klumpen Altmetall ließ sich Marco auf den Boden des Arbeitszimmers rollen. Alles tat ihm weh, und seine Gliedmaßen waren derart steif und eingeschlafen, dass er sich fragte, wie er jemals wieder auf die Füße und ins Freie kommen sollte. Aber das musste er irgendwie, und zwar schnell, denn der Kerl hatte sicher nicht
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