Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
sah ja fast so aus, als wohnte die Frau noch hier. Aber warum roch es dann so abgestanden und muffig? Warum war das Waschpulver eingetrocknet? Und warum war der Kühlschrank ausgeschaltet und leer?
Wenn Mutter und Tochter nun aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr hier lebten, warum hatten sie dann ihre Sachen nicht mitgenommen? Rechneten sie damit, irgendwann wieder einzuziehen? Marco schüttelte den Kopf. Woher sollte er auch wissen, wie Frauen ticken? Er hatte nie einem weiblichen Wesen nahegestanden, nicht einmal seiner eigenen Mutter.
Vielleicht hoffte die Frau, dass William Stark noch lebte undeines Tages wieder auftauchte? Vielleicht warteten all diese Dinge nur darauf, wieder in Gebrauch genommen zu werden?
Marco rührte sich nicht. In diesem Zimmer zu stehen und zu wissen, dass das nie geschehen würde, dass Stark tot war, das tat weh. Er ging noch einmal ins Wohnzimmer und sah sich die privaten Fotos dort an. Auf Anhieb erkannte er das Bild, das für die Suchmeldung benutzt worden war. Darauf stand Stark zwischen der Frau und dem Mädchen und lächelte. Ja, das Mädchen hatte einen Ausschnitt aus diesem Foto benutzt und vergrößert.
So würden die drei nie mehr zusammenstehen.
Marco drehte sich um und sah erst jetzt, dass die Kissen, die am Rückenpolster lehnten, großflächig aufgeschlitzt waren. Beim Nähertreten bekam er eine Ahnung von der Brutalität, die sich in diesem Raum entladen haben musste. Hatten die Frau und ihre Tochter Hals über Kopf flüchten müssen? Hatten die Einbrecher sie im Schlaf überrascht? Oder war die Gewalt von William Stark ausgegangen? Marco fröstelte. Aber hätte sich seine Stieftochter dann gewünscht, dass er zurückkäme? Nein, das ergab keinen Sinn.
Vorsichtig stocherte Marco in den Schnittöffnungen der Polster. Darin hatte sich ordentlich Staub gesammelt, es musste also schon vor längerer Zeit passiert sein. Die Schnittränder waren sehr sauber und glatt, offenbar war ein extrem scharfes Messer benutzt worden. Marco schüttelte den Kopf. Schwer vorstellbar, dass ein derart penibler, ordnungsliebender Mensch wie Stark so etwas getan hatte. Es sei denn, er war völlig ausgerastet.
Vielleicht aus Eifersucht? Weil seine Freundin ihn betrogen hatte? Hatte ihn blinde Zerstörungswut gepackt? War es der hilflose Versuch gewesen, sich aus seiner Umgebung loszureißen?
Oder steckte etwas ganz anderes dahinter?
Wieder betrachtete Marco die Fotografie, die das Mädchen verwendet hatte: William Stark zwischen Freundin und Stieftochter, mit dem afrikanischen Schmuck um den Hals, denMarco jetzt trug. Und im Hintergrund der blühende Garten. Alle drei wirkten ausgelassen und unbeschwert, selbst das Mädchen, obwohl es eingefallene Wangen und dunkle Schatten unter den Augen hatte und eindeutig krank aussah.
Nein, Marco verstand es einfach nicht: Starks Verschwinden, die aufgeschlitzten Möbel, die Kleidungsstücke im Zimmer der Frau …
Dabei hatte er so sehr gehofft, hier irgendwo Antworten zu finden. Antworten auf die Frage, warum Stark verschwinden musste, nachdem sich sein und Zolas Weg gekreuzt hatten.
Zola! Marco erstarrte. Und wenn die aufgeschlitzten Polster auf dessen Konto gingen? Hatte Stark vielleicht etwas im Haus aufbewahrt, wonach Zola suchte? Und hatte er es gefunden?
Marco wandte sich der größten Kommode zu, tastete alle Innenflächen und die Rückwand des Möbelstücks ab und prüfte, ob dort irgendwo etwas mit Klebeband fixiert war. Dann schaute er hinter sämtliche Bilder an den Wänden, hob erst die Teppiche an und danach die aufgeschlitzten Matratzen in den Betten. Systematisch, als suchte er nach dicken Geldbündeln oder kostbaren Schmuckstücken, arbeitete er sich von Zimmer zu Zimmer und von einem Hohlraum zum nächsten. Aber er fand nichts.
Dann war da noch der offene Geldschrank in dem kleinen, mit Teakregalen vollgestellten Büro neben der Haustür. Der Safe war leer, aber da alles andere kein Resultat ergeben hatte, hockte Marco sich davor, bohrte den Zeigefinger in die Ecken und rüttelte an der schweren Tür. Nein, auch hier war nichts zu holen, aber das hatte er auch nicht wirklich erwartet. Das hier war ein ganz gewöhnlicher, altmodischer Geldschrank, so hoch wie ein Tisch, mit einem einzigen großen Fach und dem Drehmechanismus in der Tür. Keine versteckten kleinen Fächer, keine unsichtbaren Schließmechanismen.
Sicherheitshalber steckte er für einen abschließenden Blick seinen Kopf in den Tresor und suchte den Boden nach
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