Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
sagte, ehe er ihn absetzte.
Was hätte er auch sagen sollen? Marco war sich darüber imKlaren, was er den Leuten eingebrockt hatte. Nichts, worauf er stolz war.
Der Weg von der Schnellstraße am See entlang bis zu Starks Haus wurde zu einer Wanderung durch die Schichten von Marcos Gewissen. Er wollte nicht stehlen. Aber in Starks Schränken hingen Sachen, die er gut gebrauchen konnte, und im Keller standen eine Waschmaschine und massenhaft Gläser mit eingelegtem Zeugs. Und: Es gab Betten mit Bettwäsche. Für jemanden in seiner Lage ein absolutes Paradies.
Deshalb wachte er am Sonntagmorgen mit dem trügerischen Gefühl auf, in seinem Leben habe ein neues Zeitalter begonnen. Allein schon die Gardinen und wie das Sonnenlicht durch sie ins Zimmer fiel! Was war dieses schöne, gut ausgestattete Schlafzimmer doch für ein Luxus. Und was für ein verlockendes Bild für die Zukunft, auf die er hinlebte.
Er streckte sich und versuchte, die dunklen Gedanken abzuschütteln. Hier konnte er nicht bleiben, das war ihm klar. Das Risiko war einfach zu groß. Gestern in Østerbro waren sie sehr nahe daran gewesen, ihn zu kriegen, und am Freitag hier im Haus wäre es auch fast schiefgegangen. Wenn er verhindern wollte, dass sich das wiederholte, musste er sie observieren und nicht umgekehrt, musste er ihnen die ganze Zeit einen Schritt voraus sein.
Als er kurz darauf in der Küche saß und eingelegte Gurken aß, wunderte er sich, dass es hier kaum Sachen gab, die auf zwei weibliche Personen im Haushalt hindeuteten: keine Küchenmaschine, keine guten Solingen-, Masahiro-, Raadvad- oder Zwilling-Messer. So etwas hatte er früher in ähnlichen Häusern immer gefunden, das ließ sich leicht zu Geld machen. Aber auch sonst gab es hier nichts Weibliches, keine Schürzen, keinen Nippes. Wahrscheinlich hatten Mutter und Tochter das bei ihrem Auszug alles mitgenommen.
Doch etwas störte diesen Gesamteindruck, und das war eine Illustrierte auf den Keramikfliesen. Eine ganz gewöhnlicheWochenzeitschrift, auf deren Cover das übliche Mädchen neben den üblichen Schlagzeilen zu Gesundheit und Mode abgebildet war. Nichts Besonderes, aber in diesem Haus fiel sie auf.
Marco stand auf und schaute sie sich näher an. Donnerstag, 7. April 2011, stand auf der Vorderseite, sie war also nur etwa einen Monat alt.
Er runzelte die Stirn. Wie kam die hierher? Wer besuchte dieses Haus? Hier war es in der Tat ziemlich sauber. Ob Tilde und ihre Mutter immer noch regelmäßig vorbeischauten? Hatten die beiden vor gar nicht allzu langer Zeit hier gestanden, sich Tee gekocht und in der Zeitschrift geblättert? Und sie dann beim Weggehen vergessen?
Er sah sich ein paar Seiten an, bevor er die Zeitschrift auf den Tisch warf. Genau da entdeckte er ein kleines Stück zusammengeknüllte Plastikfolie auf dem Fußboden.
Mit der Schuhspitze tippte er das Klümpchen an, das beim Wegrollen weiß aufblitzte. Er bückte sich und zog das Teil auseinander. Es war eine Art Folientüte, auf der ein bedrucktes Etikett klebte: »Malene Kristoffersen« stand darauf und dazu eine Anschrift: Strindbergsvej in Valby.
Kristoffersen? So hieß doch auch Tilde mit Nachnamen. Dann war das wohl ihre Mutter – und der Strindbergsvej ihre neue Adresse.
Das Haus war größer als erwartet. Gelb, mit einer merkwürdigen Dachkonstruktion: Unterhalb der normalen Dachschräge schloss sich eine fast senkrechte Fläche an, die ebenfalls mit Dachziegeln gedeckt war. In Wohngebieten wie diesem verübte der Clan keine Einbrüche. Zwar gab es auch hier Gärten, in denen man sich verstecken und durch die man notfalls abhauen konnte, aber die Bebauung war so dicht, dass die Nachbarn sich gegenseitig in die Fenster gucken konnten. Da blieb auch ein Einbrecher nicht lange unbeobachtet. Deshalb war Marco extrem wachsam, als er durch die Öffnung in der Hecke schlüpfteund zu den beiden Briefkästen neben der knallroten Tür huschte. In diesem Haus wohnten also zwei Familien. Auf dem oberen Kasten klebte ein verwitterter Aufkleber: »Tilde & Malene Kristoffersen«.
Marco atmete tief durch und starrte zu den rot gestrichenen Fenstern hinauf. Dort oben also wohnte William Starks Stieftochter, und womöglich war sie sogar zu Hause, schließlich war heute Sonntag.
Sollte er klingeln? Aber was sollte er sagen?
Als er sich endlich durchgerungen hatte und einen zitternden Finger auf den Klingelknopf legte, vernahm er plötzlich Stimmen und ein Knirschen auf dem Gehweg. Instinktiv duckte er sich
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