Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
zum letzten Mal Fahrrad gefahren war.
Seinen ersten Halt machte Marco bei der nächstgelegenen Bibliothek, das war die in Brønshøj. Um die Besucher in Augenschein nehmen zu können, saß er eine ganze Weile in der Nähe der Ausleih- und Rückgabetheke und las. Manche gingen direkt zur Ausleihe von Erwachsenenbüchern, andere in dieKinderabteilung, wieder andere gaben als Erstes die ausgeliehenen Bücher ab. Auf die wartete er, denn sie mussten ihre Krankenversicherungskarte vorzeigen, damit diese gescannt und die Rückgabe registriert werden konnte.
Er entschied sich für einen Gleichaltrigen, der die Versichertenkarte einfach ins Portemonnaie steckte, das er im vorderen Fach seiner Schultertasche verstaute. Wie nachlässig manche Leute mit ihren Sachen umgehen, dachte er, als der Junge die Tasche schließlich achtlos neben sich auf dem Boden abstellte, während er noch etwas im Internet recherchierte. Als der Computer neben dem Jungen frei wurde, sicherte Marco sich den Platz und ging auf die erstbeste Website.
Eine Stunde später stellte er das Fahrrad ein paar Straßen von seinem Ziel entfernt ab. Die Polizeiwache Bellahøj an der Borups Allé war um einiges größer als erwartet. Angsteinflößend und hässlich. Grauer Beton, und außen und innen ein Gewimmel von Menschen.
Sein Leben lang hatte Marco gegen das Gesetz verstoßen. Deshalb war es ein merkwürdiges Gefühl für ihn, zum ersten Mal eine Polizeiwache zu betreten, ja, überhaupt in Kontakt mit der Polizei zu kommen – und das sogar freiwillig. Staunend sah er sich um. Es ging unerwartet ruhig und völlig undramatisch zu. Er sah lauter ordentlich gebügelte hellblaue Oberhemden und schwarze Krawatten. Die meisten Polizisten waren ziemlich jung. Sie hatten nicht einmal aufgeblickt, als er durch die automatische Tür eintrat, wobei er den Kopf etwas seitwärts gedreht hatte, damit die Überwachungskameras sein Gesicht nicht filmen konnten.
Außer Marco saßen noch zwei Frauen auf der Bank und warteten, dass sie an die Reihe kamen. Die beiden waren mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, und man hatte der einen die Tasche geraubt. Deren Inhalt musste für sie ziemlich wichtig sein, denn sie war völlig aufgelöst.
Marco wurde davon nicht gerade wohler. Er saß am äußerstenEnde der Bank und memorierte fieberhaft, was er sagen wollte, wenn die Reihe an ihm war.
Als er endlich an den Empfangstresen gerufen wurde, legte er Starks afrikanisches Amulett und eine der Suchmeldungen auf die Theke.
Verwirrt starrte der Wachhabende darauf.
»Ich komme im Auftrag eines Freundes. Also, diese Kette hier hat dem Mann auf dem Foto gehört«, erklärte Marco, ohne auch nur eine Sekunde die beiden Polizisten aus den Augen zu lassen, die hinter dem Wachhabenden saßen und in die Tasten hauten.
Sein Plan war zu sagen, er habe die Halskette von einem Freund und der wisse, dass der Mann tot sei und wo die Leiche liege. Der Freund habe ihm erzählt, wer die Leiche dort vergraben und den Mann möglicherweise auch umgebracht habe. Marco wollte es so darstellen, als habe der Freund Angst, selbst zu kommen, und wollte dem Polizisten dann die Krankenversicherungskarte geben, die er dem Typen in der Bücherei gestohlen hatte. Der Junge würde der Polizei nicht weiterhelfen können, wenn sie ihn kontaktierten, aber jetzt wüssten sie immerhin etwas. Und Marco würden sie nie wiedersehen.
»Kannst du dich irgendwie ausweisen, mein Junge?« Der Polizist wirkte sehr freundlich.
Mist! Das hatte Marco nicht vorhergesehen. Da hätte er ja zwei Versichertenkarten stehlen müssen! Eine für den, den er als seinen Freund bezeichnete, und eine für sich selbst.
»Du verstehst doch, worum ich dich bitte, nicht wahr?«, fuhr der Beamte fort.
Marco nickte und legte die Versichertenkarte auf den Tisch.
Der Polizist warf einen Blick darauf.
»Danke, Søren«, sagte er. »Aber weißt du, wir müssen jetzt zuerst mit deinen Eltern sprechen, weil du noch nicht volljährig bist. Gib uns doch mal deren Handynummer, ich rufe sie gleich an. Sie müssen dabei sein, dann sprechen wir weiter.«
Marcos Gehirn arbeitete auf Hochtouren. »Oh, sorry, ich glaube … nein, die kann ich nicht auswendig, meine Eltern haben andauernd neue Nummern. Und mein eigenes Handy, in dem sie eingespeichert sind, habe ich bei einem Freund liegen lassen.«
Der Polizist lächelte. »Oh, kein Problem, das kenne ich gut. Weißt du denn, wo ich sie gerade erreichen kann? Hast du vielleicht eine Festnetznummer für
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