Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
Programmkinos hatte aufgeben müssen – zugunsten von Supermärkten oder wie hier einer Bankfiliale und der Stadtteilbücherei.
»Ich glaube, da sollten Sie Lisbeth fragen. Sie arbeitet hier manchmal als Vertretung unserer Abteilungsleiterin«, erklärte die Bibliothekarin an der Ausleihe. »Um die Zeit war sie hier.«
Es dauerte zehn Minuten, bis die fragliche Dame kam, aber das Warten hatte sich gelohnt.
Diese Lisbeth sprühte förmlich Funken. Sie war eine dieser Frauen, bei deren Anblick unmittelbar sämtliche Batterien aufgeladen wurden. Reif und selbstbewusst und mit unglaublich direktem Blick. Falls Mona es mit ihrem lächerlichen Vorschlag tatsächlich ernst meinte – was er nach wie vor nicht hoffte, auch wenn sie ihn gerade kreuzweise konnte –, dann hatte er diese Bibliothek nicht zum letzten Mal besucht, das stand fest.
»Zurzeit gibt es relativ viele krankheitsbedingte Ausfälle,deshalb helfen wir hier draußen alle immer mal aus. Ich assistiere hier erst seit einem Monat, und da will man seinen Kollegen natürlich gern beweisen, dass man sich nicht scheut zuzupacken.«
Ja, das konnte sie Carls Einschätzung nach bestimmt.
»Ich weiß genau, von welchem Jungen Sie sprechen, denn ich kenne ihn besser, als Sie vielleicht glauben. Allerdings habe ich mich extrem gewundert, ihn hier draußen in Brønshøj zu sehen.«
»Sie haben ihn also schon öfter gesehen, nur anderswo?«
»Ja. Eigentlich bin ich stellvertretende Leiterin der Bibliothek Østerbro in der Dag Hammarskjölds Allé. Und dorthin kam er täglich, über mehrere Monate.«
Carl lächelte, gleichermaßen erfreut über die Information wie über Lisbeth. »Super. Vielleicht erinnern Sie sich sogar an seinen Namen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er kam zwar täglich, aber zu unterschiedlichen Zeiten. Und dann setzte er sich immer gleich hin und las oder recherchierte etwas an einem der Computer. Er hat nie etwas ausgeliehen, deshalb mussten wir ihn auch nie um seinen Ausweis bitten.«
Carl hörte zu und versuchte zugleich auszuloten, was hinter dem offenen Blick aus diesen blauen Augen lag. Flirtete sie mit ihm? Oder wollte sie nur herausstellen, wie ergriffen sie von dem wundersamen Zusammentreffen war?
»Das ist ein fantastischer Junge, glaube ich. Meine Kollegen und ich waren uns einig, dass wir noch nie einen Jungen seines Alters erlebt haben, der so wissbegierig war. Eine der Kolleginnen hat sich fast eine Art Sport daraus gemacht, seine Lektüre zu überprüfen, nachdem er die Bücher wieder ins Regal gestellt hatte.«
Das war ja eine interessante Wendung! Sie war also angetan von dem Jungen.
»Und hier in Brønshøj, was hat er hier gemacht?«
»Er kam einfach. Saß dort drüben und las eine Weile in den technischen Zeitschriften, dann ging er zu den Computern. Ich weiß nicht, wie lange er insgesamt dort saß, denn ich hatte eine Kollegin abgelöst.«
»Gab es an Ihrem anderen Arbeitsplatz Klagen wegen Taschendiebstahls?«
Sie stutzte. »Warum fragen Sie? Haben Sie ihn etwa im Verdacht? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen!«
Die Antwort reichte ihm. Wenn sie es sich nicht vorstellen konnte, dann wollte er ihr Bild von dem Jungen nicht zerstören.
Er schüttelte den Kopf. »Sie sprachen von einer Kollegin in der Bibliothek Østerbro, die neugierig war, was der Junge gelesen hat. Ich würde gern mit ihr sprechen. Wissen Sie, wie ich sie erreichen kann? Hat sie vielleicht gerade Dienst?«
»Liselotte ist im Mutterschutz. Aber ich kann Ihnen die Kontaktdaten raussuchen. Einen Moment, bitte.«
Er sah ihrem engen Rock und dem wiegenden Gang nach. Allmächtiger, wie sehr wünschte er sich, dass Mona heute Abend anrief und um gut Wetter bat.
Liselotte Brix war tatsächlich schwanger. Genauer gesagt so schwanger, dass Carl ihren Körperumfang unmöglich hätte beschreiben können, ohne gleich als elender Chauvinist dazustehen.
Sie wirkte regelrecht schockiert, als er ihr den Grund seines Besuchs nannte. Ihr Heim war bereits für die Ankunft eines neuen Erdenbürgers eingerichtet. Auf dem Regal lagen Pampers-Pakete bereit, die Wiege mit dem Himmel und dem batteriebetriebenen Mobile stand startklar in der Ecke. Ganz offenbar war Liselotte Brix nicht abergläubisch.
»Hoffentlich hat der Junge nichts angestellt. Der war so cute .« Sie klopfte sich auf den vorstehenden Bauch. »Wenn ich wüsste, wie er heißt, würde ich meinen Sohn nach ihm nennen!«
Carl lächelte. »Keine Sorge, wir suchen nach dem Jungen vor
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