Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
schief. »Hm, wie ein Søren sah der aber nicht aus.«
»Nein, und er sprach auch nicht wie ein Søren. Hatte einen leichten, undefinierbaren Akzent. Aber er kann ja in späterem Alter adoptiert worden sein. Ich werde mal die Eltern anrufen, dann erfahren wir vielleicht, was der Junge auf dem Herzen hatte. Er hat uns das hier vorgelegt, aber ich hatte den Eindruck, dass er etwas für einen Freund melden wollte und dass die Sachen dem Freund gehören.«
Er deutete auf die Theke, wo ein Plakat und ein afrikanisch anmutendes Amulett lagen.
Carl spürte förmlich, wie ihm die Gesichtszüge entgleisten.
»Das glaub ich nicht«, flüsterte er nur.
Er legte dem Wachhabenden die Hand auf die Schulter. »Du brauchst nicht anzurufen. Ich fahre sofort rüber zu der Familie. Und nehme das hier mit, okay?«
Das Haus war ungewöhnlich schön, verglichen mit all den anderen ungleichen, ineinander verkeilten Wohnblocks im Nordwestviertel. Wer hätte geglaubt, dass sich in diesem städtebaulichen Durcheinander ein solches Bauernhausidyll von einem Fachwerkhaus hinter einer Rosenhecke verbergen konnte?
Die Frau, die auf sein Klingeln öffnete, sah nicht ganz so idyllisch aus und war offensichtlich nicht an unangemeldeten Besuch gewöhnt.
»Ja?« Sie musterte Carl dermaßen skeptisch, dass der sich vorkam, als hätte er die Beulenpest.
Er zog seine Polizeimarke aus der Hosentasche, was den Gesichtsausdruck der Frau nicht gerade entspannter werden ließ.
»Es geht um Søren, ist er zu Hause?«, fragte er, wohl wissend, dass das kaum möglich war, schließlich hatte er erst vor Kurzem die Polizeiwache verlassen.
»Ja.« Sie klang beunruhigt. »Worum geht es?«
Das grenzte ja an Hexerei! Oder der Junge hatte ein Fahrradin der Nähe gehabt. Anders konnte er unmöglich schon hier sein. »Kein Grund zur Sorge, ich will nur ein paar Worte mit ihm wechseln.«
Widerstrebend führte sie ihn ins Wohnzimmer und rief dann einige Male nach dem Jungen. Schließlich rannte sie nach oben. Offenbar musste sie ihn regelrecht vom Computer wegzerren, jedenfalls dauerte es eine ganze Weile, bis er ihr protestierend nach unten folgte. Als Nächstes könnte sie ja mal versuchen, Jesper von seinem Lieblingsspielzeug loszueisen, dachte Carl.
In der Tür erschien ein durchschnittlicher dänischer Junge mit semmelblonden Haaren, ganz eindeutig nicht der, den er suchte.
»Das hier fehlt dir doch bestimmt, oder?« Er hielt dem Jungen die Versichertenkarte hin.
Der nahm sie zögernd an sich. »Äh, ja, wo haben Sie die her?«
»Ich würde lieber von dir wissen, warum du sie nicht bei dir hast. Hattest du sie jemandem ausgeliehen?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Bist du ganz sicher? Auf der Polizeiwache Bellahøj war vor einer halben Stunde ein Junge, der sie als Ausweis benutzte, als er für einen Freund etwas melden wollte. Warst dieser Freund vielleicht du?«
»Nee, war ich nicht, echt nicht. Die lag in meinem Portemonnaie, und das hat mir in der Bibliothek in Brønshøj jemand aus der Tasche geklaut. Ich glaube, ich weiß sogar, wer. Haben Sie auch mein Portemonnaie? Da waren nämlich hundertfünfundzwanzig Kronen drin.«
»Leider nein. Warum warst du dort? Müsstest du um diese Tageszeit nicht eigentlich in der Schule sein?«
Der Junge sah ihn beleidigt an. »Wir schreiben einen Projektaufsatz. Schon mal davon gehört?«
Carl warf Sørens Mutter, deren Schultern mittlerweile nicht mehr ganz so verkrampft hochgezogen waren, einen fragenden Blick zu.
»Wie sah der Dieb aus, Søren? Kannst du ihn beschreiben?«
»Er hatte ein kariertes Hemd an und sah nicht sonderlich dänisch aus. Keine ganz dunkle Haut, aber auch nicht hell. Eher so ’n südeuropäischer Typ. Ich war mal in Portugal, da gab’s viele, die so aussahen.«
Carl war sich sicher: Das war derselbe Junge, den er eben auf der Wache und am Freitag bei Starks Haus gesehen hatte.
»Wie alt war er, was schätzt du?«
»Keine Ahnung, ich hab ihn nicht direkt angesehen. Er saß halt am Computer nebenan. Vierzehn oder vielleicht fünfzehn.«
Carl besuchte das Gebäude am Brønshøj Torv, in dem die Bücherei untergebracht war, nicht zum ersten Mal. Ihr Streifenwagen war einmal dorthin dirigiert worden, um einen Betrunkenen festzunehmen, der mit der Plattensammlung der Bibliothek Frisbee spielte. Das war zwar etliche Jahre her, und man hatte das Haus zwischenzeitlich etwas aufgehübscht. Trotzdem sah man ihm immer noch das alte Bella-Kino an, das wie so viele andere
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