Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
allem deshalb, weil wir glauben, dass er wichtige Informationen für uns haben könnte. Es geht um einen Vermisstenfall.«
»Gott, wie spannend.«
»Ihre Kollegin Lisbeth sagte, Sie hätten öfter mal nachgeschaut, was er gelesen hat.«
»Ja! Weil es so unglaublich vielseitig war! Und auch, weil er nie gemerkt hat, wie fasziniert wir von ihm waren. Das war irgendwie charmant.«
»Was hat er denn so gelesen?«
»Ach, das war ganz unterschiedlich. Eine Weile lang alles Mögliche zu Unterrichtsformen und -verläufen. Und danach alles von ›Was kann ich werden?‹ bis zu Aufnahmekriterien für die Universität oder Broschüren über Abiturkurse. An anderen Tagen las er über Dänemark und die Dänen. Soziologie, Innenpolitik, dänische Gegenwartsgeschichte. Aber er hat sich auch das ›Rechtschreibwörterbuch‹, den Opernführer, das dänische ›Who is Who‹ oder Bücher über Sinti und Roma, über die Rechtsordnung, über Biologie und Mathematik aus dem Regal genommen. Seine Neugier war eigentlich fast grenzenlos, ziemlich ungewöhnlich für einen Jungen seines Alters. Auch Belletristik hat er gelesen, alte dänische Autoren. Und niemals hat er ein Buch ausgeliehen. Merkwürdig, oder?«
»Warum tat er das nicht, was glauben Sie?«
»Ich weiß es nicht. Aber er war schon anders, besonders. Er hatte was von einem Migranten, auch wenn er nicht wie die ›typischen‹ Migrantenjungen aussah. Vielleicht ein Sinti oder Roma. Wir haben vermutet, dass seine Leselust zu Hause vielleicht nicht gebilligt wird.«
»Sinti oder Roma?«
»Ja, diese schöne braune Haut und dann das dunkle, lockige Haar. Aber er kann natürlich auch Spanier oder Grieche sein. Nur war sein Akzent anders. Vielleicht eher etwas amerikanisch.«
»Aha.«
»Auffällig war jedenfalls, dass sein Akzent immer schwächer wurde. Mit jeder neuen Woche hat er besser Dänisch gesprochen, und sein Wortschatz wurde immer größer. Irgendwie beinahe autistisch, wie er alles in sich aufgesogen hat.«
»Wenn ich Sie richtig verstehe, hatte er nie einen Erwachsenen bei sich? Gab es denn irgendetwas anderes, das zeigte, dass er in irgendeiner Form Anschluss hatte, irgendwo dazugehörte?«
»Nein, nicht dass ich wüsste.« Sie zog unwillkürlich die Augenbrauen hoch. Da hatte in ihrem Bauch wohl jemand gestrampelt. »Aber er war einfach so cute .«
»Wissen Sie, ob er noch immer in die Bibliothek in der Dag Hammarskjölds Allé kommt?«
»Ja, tut er. Ich rede jeden Tag mit einer der Freundinnen dort. Allerdings hat er sie in der letzten Woche etwas im Stich gelassen, glaube ich. Aber da sollten Sie die Kollegen vor Ort besser selbst fragen.«
19
»Richtig, Bjørn, das stimmt. Ich habe die Beweismittel aus Bellahøj mitgenommen. Wir beschäftigen uns jetzt mit dem Fall William Stark.«
Der kommissarische Nachfolger von Marcus Jacobsen nickte zwar, hätte augenscheinlich aber lieber den Kopf geschüttelt. Typisch Bjørn. Der würde ums Verrecken nicht zeigen wollen, was sich in ihm abspielt, aber Carl kannte ihn.
»Gut«, antwortete Bjørn und meinte wieder etwas anderes. »Hansen draußen in Bellahøj sagt, du hättest dir die Sachen von der Theke weggeschnappt, ohne das mit den Kollegen vor Ort abzusprechen. Du weißt vermutlich sehr genau, dass dieses Vorgehen nicht in Ordnung ist, weil die Objekte mit dem Einbruch in deren Bezirk in Verbindung stehen. Nicht wahr, Carl?«
»Ja, ja, der Hansen redet viel, wenn der Tag lang ist. In diesem Fall geht es um einen Mann, der seit zweieinhalb Jahren vermisst wird, und das ist nun wahrlich nicht das Spezialgebiet der Klapperschlange. Aber wenn er seinen Reptilienblick unbedingt auf diesen afrikanischen Halsschmuck und die Suchmeldung richten will, soll er doch einfach herkommen, ich zeig ihm beides mit Vergnügen. Der langen Rede kurzer Sinn: Ich habe den Fall übernommen.«
»Übernommen? Ein schönes Wort aus deinem Mund, Carl.« Bjørn lächelte mit gebleckten Zähnen, was ihm nicht stand, auch wenn er selbst das glaubte. »Du sagst, du hast den Jungen bereits zweimal gesehen, das erste Mal vor William Starks Haus und später dann auf der Wache Bellahøj, und beide Male ist er dir entwischt? Ja, tatsächlich, Carl, du hast übernommen. Man merkt’s.«
»Also, nun mach aber mal einen Punkt! Ich werde schon Kontakt zu dem Jungen bekommen, immer mit der Ruhe. Alles eine Frage der Zeit. Du sprichst hier nicht mit einem Trottel aus deinem Trupp.«
Bjørn richtete sich hinter Marcus Jacobsens Schreibtisch
Weitere Kostenlose Bücher