Erwin Strittmatter: Die Biographie (German Edition)
sein umfangreicher Nachlass, der vor allem aus Briefen, familiären Dokumenten und Manuskripten besteht. Als ich mit der Arbeit an der Biographie begann, war noch nicht klar, ob dieser Nachlass mir wenigstens in Teilen zur Verfügung stehenwürde. Verunsichert durch die Enthüllungen über die Militärvergangenheit ihres Mannes im Jahr 2008, hatte sich seine Witwe Eva Strittmatter zu keiner Zusage durchringen können. Nach ihrem Tod im Januar 2011 übergaben die Söhne das Privatarchiv ihrer Eltern an die Akademie der Künste. Und sie gewährten mir für das an einen Termin gebundene biographische Vorhaben Einsicht in die Dokumente noch vor deren archivalischer Aufnahme und Verzeichnung. Davon ausgenommen waren zunächst alle Briefe und Aufzeichnungen Erwin Strittmatters und seiner Familienangehörigen, die sich auf die Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges bezogen. Jakob Strittmatter und sein Bruder Erwin Berner benötigten selbst erst einmal Zeit, um sich mit dem bisher verschwiegenen, zugedeckten Kapitel im Leben ihres Vaters auseinanderzusetzen, ehe sie sich entschlossen, mir auch diese Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Nach und nach durfte ich in den letzten Monaten die Briefe lesen, die Erwin Strittmatter zwischen 1939 und 1945 an seine Eltern und Geschwister schrieb, ebenso die Briefe, die Eltern und Geschwister an ihn richteten, schließlich auch fragmentarische Tagebuchaufzeichnungen, Skizzen, Gedichte und Prosa-Texte aus dieser Zeit.
Wenn ich nun hier den Versuch unternehme, die Lebensgeschichte Erwin Strittmatters, quer zu seinen literarischen Selbstkonstruktionen, mit Hilfe von Dokumenten und Zeitzeugenberichten neu zu erzählen, so wird dieses Bild an einigen Stellen lückenhaft bleiben, und es wird subjektiv gefärbt sein. Trotz allen Strebens nach Sachlichkeit und Objektivität – das bin immer ich mit meinen Erinnerungen, meinen Erfahrungen, meinen Vorurteilen, die die einzelnen Mosaiksteine auswählt und zu einem Bild zusammenzusetzen versucht. Ich tue dies aus dem Blickwinkel der Nachgeborenen, der zweitenGeneration, ich bin eine Frau, ich habe in der DDR gelebt, und ich stamme aus einer Familie, deren Mitglieder während der NS-Zeit zu den Verfolgten gehörten, die im Widerstand und/oder im Exil waren. Im Laufe meiner Arbeit ist mir deutlich geworden, dass Erwin Strittmatter zu den Menschen gehörte, vor denen meine Eltern sich wohl immer ein wenig gefürchtet haben. Das hätten sie natürlich niemals zugegeben, nicht einmal vor sich selbst. Sie hatten sich schließlich dafür entschieden, zusammen mit denen den Sozialismus in der DDR aufzubauen: mit den ehemaligen NSDAP-Mitgliedern, den Heimkehrern aus dem Krieg, den Frauenschafts-Funktionärinnen und vielen anderen, die eingebunden waren in das System und vielleicht auch verstrickt in seine Verbrechen. Das waren ihre Genossen in der SED, aber sie haben sich mit ihnen immer fremd gefühlt. Befreundet waren sie nur mit Altersgefährten, die eine ähnliche Geschichte hatten wie sie selbst. Erst spät habe ich begriffen, dass meine Eltern über die unausgesprochene Frage – was hat der oder die während der NS-Zeit getan? – nie hinweggekommen sind, vielleicht gerade weil die Frage unausgesprochen blieb. So ist diese Biographie auch ein Versuch, die Furcht meiner Eltern in mir zu überwinden, ganz nah heranzugehen, genau hinzuschauen und zu versuchen zu verstehen.
GESPRÄCH MIT ERIKA BRIX
Es gibt noch eine Zeitzeugin aus Strittmatters Jugendzeit, die dazu vielleicht etwas sagen kann. Im Mai 2011 besuche ich die 98-jährige Dame in einem Seniorenheim in Forst. Sie ist schmal und klein, sitzt in einem Sessel und entschuldigt sich, dass sie nicht aufsteht, um mich zu begrüßen. »Die Füße wollen nicht mehr so richtig«, sagt sie, aber ihre Augen in dem blassen faltigen Gesicht blicken munter und wach. Frau Brix ist eine große Verehrerin der Romane von Erwin Strittmatter. Bis vor etwa drei Jahren war sie im Strittmatter-Verein noch aktiv. Aber dann habe sie sich zurückgezogen, allerdings nicht aus Altersgründen. Es habe ihr nicht gefallen, dass dort alles plötzlich so »politisch« geworden sei, wo doch der Erwin nie politisch gewesen sei. Auf den Versammlungen seien Dinge besprochen worden, die »wir doch gar nicht wissen wollten«. Es seien Leute aufgetreten, die ihren Erwin gar nicht gekannt hätten und die auf einmal »den Stab über ihn brechen wollten«. Das alles nur, weil er »von diesen Erschießungen« nichts geschrieben
Weitere Kostenlose Bücher