Erwin Strittmatter: Die Biographie (German Edition)
Jakob Strittmatter inne. Es fällt ihm sichtlich schwer, solche Sätze laut zu lesen. Weiter geht es mit der Einberufung zum Polizeidienst im März 1941, der Ankunft im Ausbildungslager Eilenburg, der Aufnahme ins Beamtenverhältnis, wofür der Briefschreiber von den Eltern eiligst den Nachweis der »arischen Abstammung« erbittet. Weil Erwin Strittmatter zunächst annimmt, sein Bataillon werde ins südliche Russland geschickt, phantasiert er in einem Brief davon, sich »in der Ukraine ein ordentliches Stück Land [zu] mausen«.
»Das ist nicht der Vater, den ich kenne«, wiederholt Jakob Strittmatter mehrmals.
Ich frage ihn, was ihn noch davon abhalte, mir die Papiere in die Hand zu geben. Ganz offensichtlich wolle er doch nichts verschweigen oder zurückhalten. Es sei der Respekt vor demWunsch der Mutter, erfahre ich. Eva Strittmatter war 2008, als er ihr die Auszüge aus den Briefen gegeben hatte, befremdet über den Ton, bestürzt über den Inhalt gewesen. Sie habe die Papiere nicht an die Öffentlichkeit geben wollen. Damals sei sie schon zu krank gewesen, um sich mit den Tatsachen auseinanderzusetzen, die das Bild, das sie bisher von ihrem Lebensgefährten hatte, radikal in Frage stellten. Er könne, sagt Jakob Strittmatter, rein rechtlich als der Erbe jetzt neu entscheiden, aber moralisch fühle er sich an ihren Wunsch gebunden. Vielleicht, fügt er nach einer Pause hinzu, würden er und seine Brüder einfach noch ein wenig Zeit brauchen.
Als mir Jakob Strittmatter das »Geschenk« im August 2011 schließlich überreicht, sitzen wir an einem Tisch im Garten von Schulzenhof. Zuvor hat er mir den Hof gezeigt, den Garten, den Blick über die Wiese, das kleine alte Haus, das große neue Haus, den Pferdestall mit der ausgebauten Dachstube, die verschiedenen Räume, in denen sein Vater und seine Mutter im Laufe der Jahre geschrieben und gelebt haben, die Kinderzimmer, in denen er und seine Brüder wohnten. Überall stehen Bücher und Zeitschriften, die Wände sind bedeckt mit Fotos und Gemälden, darunter vielen Porträts von Erwin und Eva Strittmatter. Ein Ort, angefüllt mit Vergangenheit, mit der nun die nächste Generation umgehen muss. Auch im Keller waren wir, in dem viele Regale und Schränke leer sind, nachdem der Sohn den größten Teil des schriftlichen Nachlasses seiner Eltern dem Archiv der Akademie der Künste übergeben hat.
In einem Regal steht ein stabiler Pappkarton, adressiert an Erwin Strittmatter, Schulzenhof. Die Absenderin ist Monette Büchele. 1971 schickte sie ihrem früheren Freund Briefe und Aufzeichnungen zu, die er während des Krieges bei ihr in Tirol deponiert hatte. In dem Karton befinden sich Briefe der Eltern und Geschwister an Erwin Strittmatter, außerdem Gedichte,Aphorismen, Tagebuchaufzeichnungen und andere Texte in einem selbstgebundenen Büchlein unter dem Titel »Dichtung und Prosa«. Das alles müsse er selbst erst durchsehen, sagt er, als er meinen neugierigen Blick sieht, und er wolle zuvor mit seinen Brüdern sprechen. Einige Wochen später kann ich auch in diese Dokumente Einsicht nehmen, außerdem bekomme ich einen Text ausgehändigt, den Erwin Strittmatter im Mai 1945 in Wallern verfasste, und ich darf die Originale der Briefe lesen, die ich bisher nur in Auszügen kannte.
Als ich Jakob und später seinem Bruder Erwin sage, dass ich ihr Verhalten mutig finde, wehren beide ab. Es ist ihnen nicht ganz recht, dass ich solche Sätze über sie schreibe. Und doch finde ich es mutig, denn letztlich können sie nur darauf vertrauen, dass ich mit dem Material sachlich und behutsam umgehen werde. Was die Öffentlichkeit nach dem Erscheinen des Buches daraus machen wird, darauf hat niemand von uns Einfluss.
»Sein Werk ist so groß«, sagt Erwin, »es wird das aushalten.«
NOCH EINMAL DRAŽGOŠE
Nachdem ich an die Söhne Jakob Strittmatter und Erwin Berner eine Mail geschrieben habe, in der ich mich für die Einsichtnahme in die Briefe ihres Vaters bedanke und ihnen in einigen Sätzen schildere, wie plastisch und dicht dadurch die Geschehnisse um den Ort Dražgoše für mich geworden sind, erreicht mich ein aufgeregter Anruf von Erwin. Ihm sei plötzlich klargeworden, dass auch er in die Geschichte seines Vaters involviert sei, sagt er. Bei unserem letzten Treffen habe er mir doch erzählt, dass er 1980 als junger Schauspieler zusammen mit anderen Kollegen von der DEFA zu Dreharbeiten für eine jugoslawische Fernsehserie »ausgeliehen« wordensei. Es habe sich um eine
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