Erwin Strittmatter: Die Biographie (German Edition)
Finanzmakler geworden. Ulf habe ihn mit seiner Familie jedes Jahr besucht. Nachdem er jedoch versucht hatte, einer Cousine zur Flucht über die Grenze zu verhelfen, durfte er nicht mehr in die DDR einreisen. Sie hätten sich dann heimlich auf Transit-Parkplätzen getroffen. Als Knut 1987 anlässlich des Geburtstags seiner Mutter in den Westen fahren durfte, sei für ihn das Wichtigste gewesen, Ulf wiederzusehen, sein Verhältnis zur Mutter sei schwierig geblieben. 1992 habe er noch einmal einen Versuch unternommen und das Weihnachtsfest mit ihr in Düsseldorf verbracht. Ulf hätte sich zu diesem Zeitpunkt bereits völlig von ihr losgesagt. Aber auch er habe es nicht lange ausgehalten. Mit ihr sei keine Aussprache möglich gewesen, sagt er, kein Gespräch über seine Kindheit, nichts Klärendes oder Versöhnendes.
Am 3. Januar 1993 starb Waltraud Lemcke. In der Sterbeurkunde, die mir das Standesamt Düsseldorf zuschickte, steht, dass der Zeitpunkt ihres Todes zwischen dem 2. Januar abends und dem 4. Januar nachmittags liege. Das heißt wohl, sie war allein und wurde erst Tage später gefunden.
DIE SÖHNE
Jakob Strittmatter öffnet seine Tasche und zieht einen dünnen Hefter heraus. »Podarok – Geschenk«, sagt er und: »Ich hab das mit meinen Brüdern besprochen..
Vor mir auf dem Tisch liegen – nicht die Briefe, die sein Vater während des Krieges an Eltern und Geschwister schrieb, aberAuszüge daraus vom September 1939 bis zum Februar 1942. Jakob, der jüngste Sohn von Erwin und Eva Strittmatter, der Erbe ihres Nachlasses, hat die Auszüge im Jahr 2008 angefertigt, als seine Mutter wissen wollte, was von den beunruhigenden Meldungen über die Militärzeit ihres Mannes eigentlich zu halten sei. Ich nehme die Papiere in die Hand, schaue den Mann an, der mir gegenübersitzt. Dass ich diese Abschriften nun lesen darf, hätte ich mir vor einem halben Jahr noch nicht vorstellen können. Da hatte mir Jakob Strittmatter einen Brief geschrieben, in dem er deutlich machte, dass er eine neue Biographie über Erwin Strittmatter nicht unterstützen wolle. Einige Monate später jedoch begannen die Dinge in Bewegung zu geraten. Nachdem Jakob und sein älterer Bruder Erwin sich durch Teile des väterlichen Nachlasses gearbeitet hatten, schrieben sie mir, sie hätten ihre Ablehnung gegenüber dem Biographieprojekt aufgegeben und würden mir den Zugang zu den Unterlagen eröffnen, sobald die Papiere im Archiv der Akademie der Künste angekommen seien. Sie wünschten sich eine »kritische Neubewertung des Strittmatter-Bildes«, eine objektive Darstellung, die weder beschönigen noch verdammen sollte. Die Briefe und Aufzeichnungen Erwin Strittmatters aus der Kriegszeit allerdings seien davon ausgenommen. Diese Dokumente, die natürlich – das wussten sie – die meiste öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen würden, wollten sie nicht an das Archiv geben. Sie seien derzeit für niemanden zugänglich.
Wie sich herausstellte, blieb das nicht das letzte Wort. Ich werde in den folgenden Monaten Zeugin, vielleicht sogar Teil eines Prozesses, in dessen Verlauf die Söhne – jeder für sich und gemeinsam – um einen Umgang mit dem widersprüchlichen Erbe ihres Vaters ringen und sich entschließen, nach und nach auch die Unterlagen über das bisher verschwiegene Kriegskapitel seiner Biographie preiszugeben.
Einige Wochen bevor mir Jakob Strittmatter das »Geschenk« überreichen wird, sitzen wir einen Nachmittag lang in seinem kleinen Arbeitszimmer, vor ihm liegt der Hefter mit den Auszügen aus den Briefen, die Erwin Strittmatter an seine Eltern und Geschwister schrieb. Jakob Strittmatter liest mir einzelne Passagen vor. Ich erfahre auf diese Weise, dass sich Erwin Strittmatter 1939/40 gleich dreimal freiwillig gemeldet hat: bei der Wehrmacht, bei der Schutzpolizei und schließlich bei der Waffen-SS. Ich höre von seiner Verzweiflung darüber, dass das Werk ihn nicht freigeben will. Der Sohn liest mir vor, welche Bewunderung Erwin Strittmatter seinem Vater zollt für die vier Jahre, die dieser während des Ersten Weltkrieges »draußen« war, dass er ihn um Verzeihung bittet für alle Kränkungen, die er ihm als Jugendlicher zugefügt habe. Im September 1940, wahrscheinlich anlässlich der deutschen Bombenangriffe auf Großbritannien, schreibt Strittmatter, der Krieg werde wohl noch eine Weile dauern, denn nun würden sich »Germanen« gegenüberstehen, »jedenfalls zwei Vertreter der nordischen Rasse«.
Einige Mal hält
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