Erwin Strittmatter: Die Biographie (German Edition)
regelrechtes Signal an die Partisanen zur Aufteilung der ankommenden Fracht. Beide Erzählungen treffen sich an dem Punkt, an dem der Ordnungspolizist Erwin Strittmatter einen Schuss abgibt und versehentlich einen Menschen tötet.
Was bedeutete dieser eine Schuss in einem grausamen Krieg, in dem so viele Schüsse bereits so viele Menschen getötet haben? Verschwand die Erinnerung daran hinter der Beschwörungsformel, in diesem Krieg keinen einzigen Schuss abgegeben zu haben? In Strittmatters Romanen sind im Grunde alle seine wesentlichen Lebensereignisse aufgehoben, nur oftmals in anderem Gewand und versehen mit völlig anderen Vorzeichen. Kann vielleicht der tödliche Schuss, den Stanislaus Büdner am Ende des »Wundertäters III« »versehentlich« auf die Agentin Claireliese Leisegang abgibt, als ein Versuch der Bewältigung, der Umdeutung dieses Ereignisses gelesen werden? Das wäre zumindest eine Erklärung für die sonderbare Szene. Der »unschuldige Mord« – wie so oft in seinem Leben weiß Stanislaus gar nicht, wie es überhaupt geschehen konnte –, in der Romanhandlung allerdings trifft er nichtden unschuldigen Freund, sondern die feindliche Angreiferin, und damit sind die moralischen Gewichte noch ein Stück mehr in die entlastende Richtung verschoben.
GESPRÄCH MIT ERICH LOEST
Der große Saal der Stiftung Aufarbeitung in Berlin ist überfüllt, viele Leute stehen an den Wänden, weil sie keinen Platz mehr gefunden haben. Sie alle wollen an diesem Abend des 19. Februar 2011 den Schriftsteller Erich Loest sehen und hören, der sein gerade erschienenes Buch »Man ist ja keine Achtzig mehr« vorstellt. Nach der Lesung viel Beifall und eine lange Schlange vor dem Tisch des Autors. Als ich endlich dran bin und ihn frage, ob er mir bei Gelegenheit etwas über seine Begegnungen mit Erwin Strittmatter erzählen würde, unterbricht er seine Tätigkeit kaum. »Rufen Sie mich an«, sagt er kurz, setzt seinen Namen routiniert in das hingehaltene Buch und reicht mir mit der anderen Hand seine Visitenkarte.
Einige Wochen später, im März 2011, sitze ich ihm in seiner Leipziger Wohnung gegenüber. Eine Stunde Zeit habe er für mich, sagt er. Dann erwarte er einen Anruf von seiner Zahnärztin, der sei wichtig, am nächsten Tag werde ihm nämlich »das Maul aufgeschnitten«, wie er sich ausdrückt. Wenn seine Frau hier wäre, würde ich einen Tee oder Kaffee bekommen, da sie aber ausgegangen sei, müsse ich mit Wasser oder Saft vorliebnehmen. Alles kurz und bündig, aber durchaus nicht unfreundlich gesagt. Mein Gesprächspartner nimmt Platz in seinem Sessel direkt neben der großen Fensterfront.
Fragen muss ich erst mal nicht stellen. Erich Loest beginnt gleich von der längsten und intensivsten Zeit zu erzählen, die beide miteinander verbrachten. Im Sommer 1953 waren sie vier Wochen zusammen in Ungarn, das sei eine Auszeichnung gewesen für die beiden »hoffnungsvollen jungen Autoren und Genossen«, dafür seien zwei ungarische Kollegen später für vier Wochen nach Deutschland gekommen.
»Wir wohnten hervorragend und hatten wunderbares Frühstück, und es gab ein großes Programm. Wir sollten diesbesichtigen und jenes. Wir haben dann die Schriftsteller, die da eine Rolle spielten, besucht und haben uns sehr gut verstanden.«
Obwohl Erwin der deutlich Ältere war – Erich Loest ist Jahrgang 1926 –, habe er ihm die offiziellen Begrüßungen und Danksagungen stets überlassen. Das habe ihm wohl nicht gelegen.
»Also, es war außerordentlich kameradschaftlich. Wir machten alles zusammen, ist klar, am Sonntag ging er in den Zirkus, und ich ging zum Fußball. Damals mit den ungarischen Mannschaften – das war ja der Fußball-Himmel, ich habe Unglaubli ches erlebt, und Erwin hat Unglaubliches im Zirkus gesehen..
Während dieser vier Wochen sei der 17. Juni ihr »großes Thema« gewesen. Auch die Ungarn wollten darüber etwas erfahren, sie hatten ja ähnliche Probleme mit ihrer Parteiführung. »Erwin dachte so wie die Mehrheit der Schriftsteller: Die Fehler der Partei, und der Ulbricht muss weg, und alles muss demokratisiert werden.« Aber nur privat habe er das gesagt, nicht in der Öffentlichkei.
Eine Sache, sagt Erich Loest, sei ihm erst im Nachhinein aufgefallen, als jetzt diese Geschichte mit den Gebirgsjägern bekanntgeworden sei: »Er hat nicht übern Krieg geredet. Das war sonst üblich. Alle erzählten vom Krieg und von der Gefangenschaft. Erwin nicht. Er war in Griechenland, das weiß ich noch,
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