Erwin Strittmatter: Die Biographie (German Edition)
Erzählung hier wiedergeben.
Sabine Landschek kam seit den neunziger Jahren jedes Jahr für einige Wochen nach Naxos, um dort mit deutschen Kolleginnen und Kollegen in einem verlassenen Kloster zu wohnen und an Kunstprojekten zu arbeiten. Sie sagt, sie sei im Ort bald bekannt gewesen, weil sie die älteren Leute bei jeder Gelegenheit nach der Vergangenheit befragt habe. Vermutlich 1994 oder 1995 sei sie in einer Taverne von zwei alten Männern angesprochen worden, die sie fragten, ob sie einen deutschen Schriftsteller namens Strittmatter kenne. Sie bejahte und sagte ihnen, er sei vor kurzem gestorben. Die Leute auf Naxos, so verstand sie, hatten den Besatzungspolizisten Erwin Strittmatter offenbar in freundlicher Erinnerung behalten. Entweder wussten sie, dass er später ein erfolgreicher Romanautor geworden war, oder er hatte sich ihnen schon damals als Schriftsteller präsentiert, was ja durchaus zu seinem Selbstverständnis gepasst hätte. Die Männer erzählten Sabine Landschek jedenfalls, die Deutschen hätten sich höflicher verhalten als die Italiener, an deren Stelle sie traten. Während die italienischen Soldaten den Leuten die Hühner einfach weggenommen hätten, hätten die deutschen Besatzer angeklopft und die Hühner gekauft, ein Tauschobjekt angeboten oder zumindest gefragt. Die beiden Männer berichteten von einer Situation auf Naxos, die man vermutlich als die Beschreibung einer Art Koexistenz zwischen den Besatzern und der Untergrundbewegung auf der Insel ansehen muss. Angesichts des sich verändernden Kräfteverhältnisses im Krieg, der zunehmenden Unterstützung der Alliierten für die griechische Partisanenbewegung und der kaum noch in Frage gestellten britischen Vorherrschaft auf See scheint ein pragmatisches Verhalten der zahlenmäßig geringen Gebirgsjägertruppe, die auf Naxos weitgehend auf sich allein gestelltwar, immerhin denkbar. Der Regimentsstab saß weit entfernt auf dem Festland, wo die SS-Polizei-Gebirgsjäger gemeinsam mit Wehrmachts- und SS-Verbänden einen grausamen Feldzug gegen jeglichen Widerstand seitens der Bevölkerung führten.
Auf Naxos aber, so die Berichte der beiden alten Inselbewohner, habe Erwin Strittmatter dafür gesorgt, dass die Partisanen einen Teil der Lebensmittel abbekamen, die die Versorgungsschiffe der Marine von Zeit zu Zeit auf die Insel brachten. Bei einem solchen Anlass soll Erwin Strittmatter einen Schuss abgegeben haben – eigentlich nur, wie die Männer Sabine Landschek versicherten, um den Partisanen die Ankunft des Schiffes zu signalisieren. Dieser Schuss habe jedoch einen der Partisanen tödlich getroffen.
Wie das bei mündlichen Überlieferungen meist der Fall ist, gibt es für diese Geschichte noch mindestens eine weitere Variante. Ich bekam sie per E-Mail von Klaus Pfeiffer geschickt, einem deutschen Künstler, der seit über dreißig Jahren auf Naxos lebt und arbeitet und mit Sabine Landschek befreundet ist. Pfeiffer sammelt alle Informationen – mündlich, gedruckt und elektronisch –, die er über die Geschichte der Insel findet. Er schrieb mir, der ehemalige griechische Botschafter in Moskau, Anthonoz (Anthony) Protonotarios, der auf Naxos lebe, habe ihm erzählt, es habe sich nicht um ein Versorgungsschiff, sondern um ein Heinkel-Wasserflugzeug gehandelt, das, mit Konserven beladen, im Hafen von Naxos versunken sei. Naxiotische Fischer wären getaucht und hätten die Konserven an Land gebracht, an den felsigen Strand der Paralia, wo es damals noch keine Straße gegeben habe. Laut Aussage von Protonotarios und anderen Zeitzeugen habe Erwin Strittmatter vom Boot aus die Verteilung der Konserven organisiert, und sein bester griechischer Freund, ein Kommunist, habe »oben«für Ordnung gesorgt. Dabei sei es zu regelrechten Verteilungskämpfen mit großem Geschrei und Gedränge gekommen. »Naxiotisches Chaos eben«, nennt Pfeiffer das. Um die Lage in den Griff zu bekommen, habe Erwin Strittmatter mit seiner Pistole in die Luft geschossen. In diesem Augenblick habe sich sein Freund nach vorn gebeugt und sei von der Kugel tödlich getroffen worden. Klaus Pfeiffer ergänzt, er habe dem Sohn dieses Kommunisten ein Jugendfoto von Strittmatter gezeigt, und der habe ihn sofort zweifelsfrei als den Mann erkannt, der seinen Vater erschossen habe.
Beide Varianten ergänzen und widersprechen einander in manchen Passagen. Dabei erscheinen mir der Unfall des Wasserflugzeugs und die Tumulte bei der Bergung der Lebensmittel realitätsnäher als ein
Weitere Kostenlose Bücher