Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern (German Edition)
erhält Lillian auf der Kommandantur den Auftrag,
um 17 Uhr im mittleren der drei Militärhäuser am Stabburshaugen zu erscheinen,
um dort bei einer Besprechung zu übersetzen.
Das mittlere Haus, so schießt es ihr durch den Kopf, das ist doch
das Haus, in dem Vera einmal gewohnt hat!
Als Lillian den steilen Weg hinaufgeht, hat sie ein unangenehmes
Gefühl. Hauptmann Ascher hat Pünktlichkeit befohlen, absolute Pünktlichkeit.
»Die Sache, Fräulein Berthung, ist ungemein wichtig.« Man könne sich doch auf
sie verlassen, nicht wahr?
Der Wachtposten am Zaun betrachtet sie und ihren Passierschein im
Schein der Taschenlampe. Dann verschwindet er in der Baracke. Es wird
telefoniert. Lillian muss warten. Trotz der Dunkelheit sieht sie, dass das
Gebäude von einem hohen Stacheldrahtzaun umgeben ist. Dann öffnet sich das Tor.
Lillian muss vortreten. Ein Soldat bringt sie zur Haustür. Hier hat Vera
gewohnt. Vera. Die beste Freundin. Die beste Freundin, die nun nichts mehr von
ihr wissen will. Wegen Helmut. Und Lillian ist froh, dass Vera sie wenigstens
jetzt nicht sehen kann.
Die Eingangstür sieht genauso aus wie früher. Nur das Schild fehlt.
Ein Wachsoldat reißt die Tür auf. Lillian tritt in den Flur. Der große Spiegel,
der in der Ecke hing, ist weg. Auch die Teppiche sind verschwunden. Lillian
zieht den Mantel aus und geht zur Garderobe. Dort hängen einige dunkle
Herrenüberzieher, aber keine Soldatenmäntel.
Der Wachsoldat öffnet die Tür zu dem Raum, der früher das Wohnzimmer
war. Jetzt nutzt man ihn als Büro. Mehrere Männer stehen in der Ecke und
unterhalten sich leise. Lillian bleibt am Kamin stehen. Früher hatten Vera und
sie darin Äpfel gebraten. Jetzt ist er kalt. Die Männer grüßen Lillian kurz,
nehmen dann aber keine Notiz mehr von ihr. Es sind Norweger. Lillian kann nicht
hören, worüber sie reden. Sie schaut hinüber in das erleuchtete Esszimmer. Die
große Doppeltür ist nicht mehr da. Dafür hängen vor den Fenstern schwarze Vorhänge
zur Verdunklung. Ein großer Tisch steht mitten im Zimmer. An der einen Wand
hängt eine Landkarte, an der anderen die Hakenkreuzfahne.
Nach einer Viertelstunde öffnet sich die Wohnzimmertür und ein
deutscher Oberst, begleitet von zwei Offizieren, tritt ein. Er bittet alle an
den großen Tisch.
»Wo ist die Dolmetscherin?« Lillian tritt nach vorne und stellt sich
vor. Sie sieht, dass auf dem Tisch eine große Karte von Nordnorwegen liegt.
»Ich erwarte«, sagt der Oberst, »von der Dolmetscherin und den
Herren Lensmenn absolute Verschwiegenheit in dieser Angelegenheit. Wenn Sie mir
das bitte durch Ihre Unterschrift bestätigen wollen.« Die Männer sind also
Lensmenn, Landräte. Mit einer Handbewegung fordert der Oberst von Lillian die
Übersetzung. Einer der Offiziere legt eine Namensliste zur Unterschrift vor.
Zuerst sind die Lensmenn dran, einer nach dem anderen, dann Lillian. Niemand
sagt etwas. Nur das Kratzen der Feder auf dem Papier ist zu hören.
Während Lillian in der Reihe steht, kann sie den Oberst heimlich
betrachten. Er ist sicher über 60, aber noch immer groß und kräftig und wirkt
mit seinen blonden Haaren und den buschigen Augenbrauen wie ein norwegischer
Bauer. Bloß dass ein norwegischer Bauer keinen Schmiss auf der Wange hat und
kein Eisernes Kreuz an der Brust. Lillian unterschreibt als Letzte.
»Sie erhalten Nachricht, falls die Schweigepflicht aufgehoben werden
sollte.« Die Stimme des Obersts ist von sachlicher Kühle. »Meine Herren
Lensmenn, es geht um Folgendes: Wie Sie wissen, drängt die Rote Armee im
Nordosten gegen die Grenzen Norwegens. Die Russen stehen kurz vor Kirkenes, die
Front in Finnland ist zusammengebrochen, und unsere Truppen befinden sich im
heroischen Abwehrkampf gegen den russischen Feind.« Der Oberst macht eine
Pause, damit Lillian alles übersetzen kann.
»Meine Herren, es ist Befehl von Berlin gekommen, dass die Einwohner
der Finnmark evakuiert und alle Häuser abgebrannt werden müssen. Falls die
russischen Bataillone über die Grenze nach Norwegen kommen, werden sie dort
nichts mehr vorfinden.«
Hat er das wirklich gesagt? Hat sie das richtig verstanden? Lillian
ist sich nicht ganz sicher, doch das Gesicht des Obersts lässt keinen Zweifel.
Sie übersetzt alles Wort für Wort. Auch die Lensmenn scheinen nicht recht
glauben zu wollen, was ihnen die junge Frau da auf Norwegisch sagt. Einer
bittet Lillian um eine Wiederholung. Sie tut es. Dann fragt er noch einmal
nach: »Haben Sie das richtig
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