Erzähl es niemandem!: Die Liebesgeschichte meiner Eltern (German Edition)
übersetzt?« Sein Gesicht ist aschfahl. »Ja, ich
habe genau übersetzt.«
Der Oberst spricht weiter, und Lillian kann sich nur mit großer
Anstrengung auf seine Worte konzentrieren. »Alles, was wir hier noch an
Schiffen haben, kommt zum Einsatz, um die Bevölkerung südwärts zu bringen. Für
das Vieh wird der Platz aber nicht reichen. Alle Tiere müssen deshalb getötet werden.«
Lillian fühlt, wie ihre Stimme zittert, sie übersetzt ganz mechanisch.
»Die Frage an Sie, meine Herren Lensmenn, ist nun: Wie viele
Flüchtlinge können Sie in Ihren Bezirken aufnehmen? Ich wünsche innerhalb der
nächsten fünf Tage eine komplette Liste. Wir haben keine Zeit zu verlieren, der
Norden braucht unseren Schutz vor den Russen.«
»Frag den Oberst, ob die Häuser nicht stehen bleiben können«, sagt
einer der Lensmenn leise. »Und sag ihm, dass wir versuchen werden, weitere
Schiffe zu besorgen, damit auch die Tiere weggeschafft werden können.« Lillian
übersetzt mit großem Ernst und blickt den Oberst eindringlich an.
»Führerbefehl«, sagt der Oberst knapp. »Meine Herren, Sie wissen,
was das bedeutet.« Er nickt kurz den beiden Offizieren zu. Dann verlassen die
drei das Zimmer. Lillian und die acht Lensmenn bleiben erschüttert zurück.
»Du bist so blass, fühlst du dich krank?«, fragt die
Mutter, als Lillian nach Hause kommt.
»Ich glaube, ich bekomme die Grippe, ich will mich gleich hinlegen.«
Sie kann jetzt mit niemandem sprechen. Die Mutter schaut ihr bekümmert nach.
Auf der Kommode liegt ein Brief von Helmut. Er ist nun schon so lange mit
seiner Kompanie am Lyngenfjord. Lillian lässt den Brief liegen. Sie wirft sich
auf ihr Bett. Sie kann die Tränen nicht mehr aufhalten. Sie presst das Gesicht
in das Kissen, damit niemand im Haus hört, dass sie weint.
Carola arbeitet für die Organisation Todt
September/Oktober 1944
Am 27. September 1944, neun Tage nach der Deportation seiner
Frau vom Schlachthof in Düsseldorf-Derendorf, fährt Heinz mit dem Zug nach
Minkwitz bei Zeitz. Er hat herausgefunden, dass sich Carola dort in einem Lager
der »Organisation Todt« befindet, 40 Kilometer südlich von Leipzig.
Ende 1944 verfügt die »Organisation Todt« über 1 360 000 Arbeitskräfte.
Eine davon ist Carola Crott. Heinz Crott schreibt an seinen Sohn Helmut am 1. Oktober 1944 in Brief Nr. 43 aus Minkwitz/b. Zeitz:
Mein lieber Helmut, ich bin Mittwochabend von Elberfeld abgefahren
und kam Donnerstag nach 20-stündiger Fahrt hier an. Mit mir reisten noch
2 Herren, einer aus Remscheid und einer aus Elberfeld.
Bisher ist man noch in einem Saal mit 160 Personen gleichen Geschlechts
untergebracht. Die O.T. ist die Betreuerin. Notlager und Wehrmachtsverpflegung.
Es ist aber nur ein vorübergehender Zustand, da die Aufteilung noch vor sich
gehen soll. Soviel aber zur Beruhigung, daß vorläufig kein Anlaß zur
übermäßigen Sorge vorliegt, es scheint auch ein wesentlicher Unterschied
zwischen dieser Aktion und früheren (Tetta) zu bestehen. Und so wollen wir
hoffen, daß alles ein gutes Ende findet.
Ich konnte auch mit Genugtuung feststellen, daß die halbe
Portion doch ein tapferer Kerl ist, der wegen seiner aufrechten und keineswegs
sich hängen lassenden Haltung allgemein Sympathie genießt und bereits den
Spitznamen »Liebling« trägt.
Morgen fahre ich wieder nach Hause, aber es ist mir bei
unveränderter Lage unbenommen, mit der halben Portion Briefe zu wechseln und
auch fernerhin Besuche zu machen. Dienstagmorgen werde ich wieder in Elberfeld
sein.
Damit will ich meine Epistel beschließen, etwaige Briefe für
die halbe Portion kannst Du an mich leiten, damit ich sie zusammen mit meinen
eigenen abschicke. Viele herzliche Grüße
Dein schon wieder besser gelaunter Alter.
Darunter stehen nur ein paar Zeilen von Carola:
Mein lieber, guter Helmut, viel schreiben kann ich heute noch
nicht und Du wirst verstehen, weshalb. Nimm, wie immer, von mir die
herzlichsten Grüße und die allerbesten Wünsche für die Zukunft von Deiner
M.
Helmut ist zunächst erleichtert. Die Mutter lebt, und der
Vater kann sie besuchen. Vielleicht schaffen es die Crotts ja doch, dies alles
zu überleben.
Inzwischen ist es sehr kalt am Lyngenfjord geworden, und die
Soldaten kämpfen nicht nur gegen heftigen Schneefall, sondern auch gegen die
Niedergeschlagenheit und die Angst. Sooft es geht, schreibt Helmut an Lillian,
aber von der Deportation seiner Mutter erzählt er ihr nichts. Das will er
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