Erzaehl es niemandem
Jüdin Else Müller,
geborene Coppel, verheirateten Fritz Müller.
Die Familie verliert die Existenzgrundlage. Die Versuche des Vaters,
ein neues Leben mit der Familie im Ausland zu beginnen, scheitern. Dann kommt
Frau Kassel auf den 17. September 1944 zu sprechen. Darüber, wie verbittert sie
noch immer über jene Katholiken ist, die an diesem Sonntag in Krefeld gerade
aus dem Hochamt kamen, als sie, die Juden, an dem Kirchenportal vorbeigetrieben
werden.
»Niemand hat uns geholfen«, sagt sie leise. »Weder meiner Mutter,
noch meiner Schwester, noch mir.« Als sie auf den Schlachthof in Derendorf zu
sprechen kommt, merke ich, dass es ihr sehr schwerfällt.
»Meine Schwester Lore war damals im sechsten Monat schwanger. Die
Nacht war schlimm, es war kalt. Und dann nur diese Schweinetröge. Am nächsten
Morgen sind die Züge angerollt. Dann haben die Wachen die Transporte zusammengestellt.
Es gab je einen Männertransport und einen Frauentransport. Jeweils zu
unterschiedlichen Zielen. Lore kam mit auf den Frauentransport, mein Schwager
auf den Männertransport. Man kann sich vorstellen, was das für eine Schwangere
bedeutete. Lore warf sich vor dem Gestapo-Mann auf das Pflaster und flehte,
dass man sie doch bei ihrem Mann lassen soll. Ich werde nie vergessen, was der
dann tat. Er gab ihr einen Tritt und sagte: Meinetwegen. Verrecken müsst ihr ja
doch. So oder so.« Frau Kassels Stimme ist jetzt nicht mehr so fest.
Ich fühle mich auf einmal schuldig. Schuldig, weil ich die kleine
schmale Frau, die mir gegenübersitzt, dazu gebracht habe, noch einmal auf jene
Tage zurückzublicken. Bei unserem ersten Telefonat hatte ich Frau Kassel
erzählt, dass mein Vater über die Zeit des Nationalsozialismus und das, was ihm
angetan worden ist, immer geschwiegen hat. Jetzt nimmt sie diesen Faden wieder
auf. »Sie müssen Ihren Vater verstehen. Es tut sehr weh, wenn man sich
erinnert.«
Ich zeige ihr Bilder von meiner Großmutter. Nein, sie kann sich
nicht entsinnen.
»Aber wissen Sie, ich war damals die ganze Zeit so mit meiner Mutter
beschäftigt, weil es ihr so schlecht ging.« Sie erzählt mir, dass es damals
zunächst in ein Lager nach Minkwitz und dann nach Zeitz gegangen war. In die
Orte also, aus denen mir Briefe meiner Großeltern vorliegen.
Ich zeige Ilse Kassel den Brief meiner Großmutter, den sie aus dem
Arbeitslager in Zeitz an meinen Großvater geschrieben hat: »Wenn ich nun noch
von Viola, Paula, Polly, Ilse, Jettchen, Marie und Hanni besonders herzliche
Grüße bestellen soll …«
»Ilse …«, sagt Frau Kassel. »Ich bin nicht ganz sicher, aber ich
glaube, ich war die einzige Ilse dort.« Dann muss es wohl so gewesen sein, auch
wenn sich Frau Kassel nicht mehr an meine Großmutter erinnert: Ilse Kassel war
zur gleichen Zeit wie Carola Crott im Schlachthof in Derendorf, dann im Lager
in Minkwitz und auch im Arbeitslager in Zeitz.
»Würden Sie mit mir noch einmal nach Zeitz fahren?«, frage ich.
Frau Kassel zögert.
»Ich muss erst darüber nachdenken.«
Es ist inzwischen halb sechs geworden. Frau Kassel will pünktlich
bei der Gedenkfeier sein. Ich frage, ob ich sie begleiten darf.
In der Marktstraße sind etwa 150 Leute an jener Stelle versammelt,
wo früher einmal die Synagoge gestanden hat.
Jetzt stehen dort sechs Stelen. »Eine für jede Million«, sagt Frau
Kassel. »Für jede Million ermordeter Juden.«
Es sind heute weniger Menschen gekommen als sonst. Das liegt sicher
am Regen. Frau Kassel hat in der Menge ein bekanntes Gesicht entdeckt. Es ist
Frau Dr. Ruth Frank.
»Sind Sie auch jüdischer Abstammung?«, fragt sie mich. Ohne zu
überlegen sage ich: »Nein.« Ich verbessere mich sofort. »Ja. Doch. Meine
Großmutter war Jüdin.«
»Aber dann sind Sie ja Vierteljüdin«, sagt Frau Dr. Frank zu mir.
Ilse Kassel und ich stehen zusammen unter einem Regenschirm, als der
Chor das erste Lied anstimmt. Die Männer und Frauen singen auf Russisch.
»Die jüdische Gemeinde hat sich im Lauf der Zeit verändert«, sagt
Frau Kassel. »Und jetzt ist mir manches ein wenig fremd.«
Ich schaue nach oben in den dunklen Novemberhimmel und stelle mir
vor, dass mein Vater und meine Großmutter auf mich hinuntersehen. Sie freuen
sich bestimmt, dass ich hier stehe. Zusammen mit Ilse Kassel.
Sollten sich von dem Mann fernhalten, Fräulein Berthung
Dezember 1943
Seit Spätherbst 1943 ist Helmut mit seiner Kompanie auf
dem Festland bei Narvik. Dort erhält er nicht nur Post von Lillian,
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