Erzaehl es niemandem
die junge Frau.
Für die Deutsche, wie er glaubt. Die ihm ab und zu Essen gibt. Und ihm auf der
Karte gezeigt hat, wohin man ihn gebracht hat.
Am Nachmittag kommt Ulvall von einem Übersetzungsauftrag
zurück ins Büro. »Stell dir vor, sie haben Grete festgenommen. Ich kenne sie
seit meiner Schulzeit. Sie wohnt mit ihren Eltern in dem kleinen weißen Haus
neben Friseur Jensen.« Auch Lillian weiß, wer das Mädchen ist. Ulvall erzählt weiter,
dass Grete einem russischen Kriegsgefangenen, der Eisenstangen ausladen sollte,
heimlich Handschuhe zugesteckt hat. Ein Wachmann hat Grete dabei beobachtet,
und dann hat man sie sofort abgeführt. Niemand weiß, wo sie ist, die Eltern
sind verzweifelt.
Eines Abends fliegt die Tür zum Geschäftszimmer auf, ohne
dass jemand vorher angeklopft hätte. Ein Mann in einem schweren Ledermantel
fragt auf Deutsch, ob es ein Telefon gibt, über das er ein Gespräch von der
norwegischen Telefonzentrale vermitteln lassen kann. Lillian zeigt auf das
Telefon an der Wand. Der Mann kurbelt, nimmt den Hörer ab und gibt der
Vermittlung eine Nummer durch.
Lillian und Ulvall tun so, als seien sie in ihre Akten vertieft,
hören aber genau zu, was der Fremde sagt. Das Gesicht des Mannes ist hart,
seine Stimme hat einen metallischen Klang.
»Ich bin gekommen, um meinen Jungen zu holen«, sagt er auf Deutsch.
»Ich werde ihn morgen Mittag mitnehmen. Wir reisen dann sofort nach Deutschland
weiter. Heil Hitler.« Der Mann legt den Hörer auf und sagt noch einmal, diesmal
zu ihnen, »Heil Hitler.« Dann ist er weg.
Lillian ahnt, mit wem der Mann gesprochen hat. Mit ihrer ehemaligen
Lehrerin, der Mutter von Anna-Karin. Anna-Karin hatte Mitte der dreißiger Jahre
in Berlin einen Deutschen geheiratet und ein Kind bekommen. Die Ehe scheiterte,
Anna-Karin arbeitet nun auf einer Insel der Vesterålen, und ihr Sohn lebt bei
den Großeltern in Harstad. Jetzt also soll der Junge nach Berlin gebracht
werden. Weil in Harstad die Deutschen die Macht haben, nimmt sich der Mann im
Ledermantel das Recht dazu heraus. Das Recht, den Jungen in eine Stadt zu bringen,
die Tag und Nacht bombardiert wird und weit weg von den Menschen ist, die er
kennt und liebt.
Als Lillian später durch die dunklen Straßen nach Hause geht, denkt
sie daran, wie verzweifelt die Mutter und die Großeltern jetzt sein müssen. Und
dass am nächsten Tag ein Pult in der Schulklasse leer bleiben wird. Die
Schulkameraden werden nicht verstehen, warum.
Lillian würde so gerne mit Helmut über all das sprechen. Aber der
ist vor vier Wochen mit seiner Kompanie nach Lenvikmark bei Narvik versetzt
worden. Mehrmals in der Woche ruft er über die Heeresvermittlung in der
Kommandantur an. Ulvalls Blicke sind böse, wenn er Lillian den Hörer
weiterreicht. Und wenn der Kurier, der kleine freundliche Herr Bolt, mit den
Briefen aus Lenvikmark kommt und schon in der Tür ruft: »Auch für Sie ist
wieder einer dabei, Fräulein Berthung«, dann rollt Ulvall nur mit den Augen.
Dann sind sie ja Vierteljüdin
November 2010
Am 9. November fahre ich zu Ilse Kassel nach Krefeld, der Frau,
die im Herbst 1944 mit meiner Großmutter und vielen anderen in den Derendorfer
Schlachthof nach Düsseldorf gebracht worden ist. Eigentlich ein Zufall, dass
unser Treffen an diesem historischen Datum zustande kommt. Frau Kassel hat zwei
Stunden für mich eingeplant. Um 6 Uhr will sie zur Gedenkstunde in die
Krefelder Innenstadt gehen.
Ich bin aufgeregt, als ich vor ihrem Haus stehe. Am Telefon war Frau
Kassel zwar sehr freundlich gewesen. Aber ich glaube auch eine gewisse Skepsis
in ihrer Stimme gehört zu haben. Ich drücke auf den Klingelknopf.
»Na, dann kommen Sie mal herein«, sagt Frau Kassel. Kaum zu glauben,
dass diese Frau 85 Jahre alt sein soll. Sie strahlt Energie und
Entschlossenheit aus. Ilse Kassel hat Tee für uns gemacht. Auf dem
Wohnzimmertisch liegt eine mit Spitze umrandete Decke. Eine silberne Schale ist
mit Keksen und Pralinen gefüllt. Ich versuche meine Befangenheit abzulegen. Der
Gedanke an Carola Crott hilft mir dabei. Ich bin ihre Enkelin, ich darf Fragen
stellen.
Frau Kassel erzählt. Sie erzählt zunächst von ihrem Vater, dem
Elektromeister Fritz Müller. 1935 hat man ihm die Konzession zur Erstellung
elektrischer Anlagen entzogen. Er darf weder für die Krefelder Stadtwerke arbeiten
noch für das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk. Keine Aufträge an Juden
und auch nicht an »jüdisch Versippte«, wie den mit der
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