Erzaehl es niemandem
gegen den Winter hatten sie nur
schlechte Bekleidung. Um die Füße wickelten sie Lappen, nur wenige hatten
Schuhe. Die Gefangenen waren ständig hungrig. Die Deutschen konnten sich damit amüsieren,
den Gefangenen einen Brotkanten hinzuwerfen, um der daraus entstehenden
Schlägerei zuzusehen. Völlig entkräftete Menschen wurden zum Sterben ans Meer
geschleppt. 54
Immer wenn ich in Harstad bin, gehe ich zu dem Denkmal am
Meer. Es steht unterhalb der Trondenes-Kirche, ein schwarzer Obelisk mit rotem
Stern auf weißem Marmorsockel. Mit kyrillischen Buchstaben steht dort: »Zur
Erinnerung an 800 russische Soldaten, die in faschistischer Gefangenschaft
starben.«
Ab Ende 1942 werden die Russen für den Bau der Adolfkanonen eingesetzt.
Hitler geht zu diesem Zeitpunkt der Ausbau der Küstenbefestigung nicht schnell
genug, deshalb legt er für die »Organisation Todt« eine neue Rangfolge der
Arbeiten fest, in der die Küstenbefestigung nun absoluten Vorrang hat.
Im Zusammenhang mit diesen Plänen wird auch der gesamte Grund und
Boden auf Trondenes und in Ringberg beschlagnahmt, die Häuser und Höfe ebenso,
das Gebiet gesperrt und bewacht. Den Bewohnern ist damit nicht nur der Zutritt
zur Halbinsel Trondenes versperrt, sondern auch zu ihrer Kirche.
Hier, 90 Meter über dem Meer, soll die wohl größte landgestützte
Kanone der Welt aufgestellt werden. Ab Herbst 1942 werden die Vorbereitungen
dazu getroffen. Um die schwersten Waffenteile – das Kanonenrohr und die
Stahlplatten des Geschützturmes – an Land bringen zu können, bauen die Deutschen
einen eigenen Kai. Die Arbeiten an Kanone und Turm werden bis hin zum
Probeschuss von den Technikern der Firma Krupp aus Essen ausgeführt.
Fotografien von damals zeigen, dass noch
Schnee lag, als die Waffenteile ausgeladen und zu den Kanonenstellungen
transportiert wurden. Der Gotha genannte Transportwagen für das Kanonenrohr
hatte 12 Achsen mit 48 Rädern. Deshalb musste die eigens erbaute
Transportstraße einen möglichst geraden Verlauf haben. Infolge war der Weg
recht steil und es war notwendig, zusätzlich sieben Zugfahrzeuge vorzuspannen.
Ohne den Arbeitseinsatz, zu dem die Russen, bedroht von brutalen Wachen mit
Gewehren und Bajonetten, gezwungen wurden, wären die Batterien nicht
entstanden. 55
So entsteht die Adolfkanone Nr. 1, von der aus
Adolfgranaten mit einer Reichweite von 56 Kilometern abgeschossen werden
können.
Insgesamt bauen die Deutschen in Norwegen 80 größere
Küstenbefestigungen mit insgesamt 1100 Kanonen, ein Viertel davon auf den
Lofoten, den Versterålen, den Ofoten und in Süd-Troms. Die Waffen haben den
Zweck, die Wege nach Narvik zu sichern. Die Adolfkanone der Batterie Trondenes kommt
im Verlauf des Krieges nicht zum Einsatz. 1992 wird die Festung Trondenes als
Denkmal von großer nationaler Bedeutung bezeichnet und die Kanone Nummer 1 mit
ihrem gesamten Interieur unter Denkmalschutz gestellt.
Iwan
November 1943
Iwan lässt sich Zeit, wenn er das Holz für den Ofen im
Geschäftszimmer stapelt. Hier oben ist es warm. Unten im Keller, wo er das Holz
spaltet, ist es kalt. Lillian tut der russische Kriegsgefangene leid. Der Mann
ist so mager, so müde und erschöpft. Den Kontakt zu Gefangenen haben die
Deutschen streng verboten.
Als Lillian an einem Nachmittag allein im Büro ist, bittet sie den
Russen mit einem Handzeichen, zu der großen Landkarte hinter ihrem Schreibtisch
zu kommen.
Iwan bleibt, wo er ist.
Lillian zeigt zuerst auf die Karte, dann auf ihn und macht einen
fragenden Gesichtsausdruck.
»Poltava«, sagt Iwan leise.
Nach kurzem Suchen findet Lillian die Stadt Poltava in der Ukraine,
südöstlich von Kiew.
Lillian macht dort ein kleines Kreuz. Dann macht sie noch ein Kreuz
bei Harstad.
Erst jetzt tritt Iwan zögernd vor die Karte. Lillian nimmt seine
Hand und führt seinen Zeigefinger von Poltava nach Harstad. Über das Gesicht
des Russen laufen Tränen. Die beiden Kreuze sind so weit voneinander entfernt.
Ein paar Tage später legt Iwan wieder Scheit auf Scheit neben den
Ofen des Geschäftszimmers. Lillian und der Russe sind allein im Zimmer. Er
kommt plötzlich zu Lillians Schreibtisch und greift schnell unter sein
löchriges Hemd, um ihr etwas zu übergeben, das in einen Lappen gehüllt ist.
Sie schlägt den Lappen auseinander. Es sind zwei kleine Bilderrahmen.
Iwan hat sie aus Holzresten gebastelt. An der oberen Kante hat er ein
Hakenkreuz eingeritzt. Iwan strahlt. Das ist sein Geschenk für
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