Erzaehl mir ein Geheimnis
strahlendes Lachen. Sie umschlang mich mit ihren Armen, hielt mich ganz fest und schaukelte hin und her. Ihr Körper wiegte sich in leisem Kichern, ich bekam fast keine Luft mehr. Ich lachte auch, kam mir dabei aber irgendwie albern vor. Erst als sie mich losließ, merkte ich, dass sie weinte.
»Du willst nicht wirklich so sein wie ich!« Sie wischte sich ihre Tränen weg und verschmierte dabei die Schminke um ihre Augen. Ihr Lachen klang bitter glucksend. »Du bist besser dran, wenn du so bist wie Mom, nicht wie ich!«
Unten fiel die Haustür ins Schloss. Es war Mom, sie war vom Theaterausschuss der Kirche oder vom Beten für Xandas Seele zurück. Die Sicherheitsnadeln stachen in meinen Körper. Im Spiegel trafen sich Xandas und mein Blick: Panik war in meinen Augen, Entschlossenheit in ihren. Sie schob sich an mir vorbei und verschwand durch die Tür. Mom sah ihr durchsichtiges Kleid und ließ sofort eine ihrer üblichen Tiraden los. Angezogen wie ein Strichmädchen … spielst mit dem Feuer … siehst du nicht, wie du dein Leben ruinierst?
Ich zuckte zusammen, wohl wissend, dass ich solche Worte, die Mom meiner Schwester einfach so an den Kopf warf, nicht ertragen könnte.
»Es reicht, Mom«, konterte sie. »Das ist mein Leben, nicht deins.«
Dann dämmerte es mir: Xanda versuchte gerade, Zeit für mich zu schinden. Ich kämpfte noch kurz mit den Sicherheitsnadeln und flüchtete dann mit nur ein paar Kratzern durch den Geheimgang, den Dad irgendwann mal zwischen unseren Zimmern gebaut hatte.
Xandas Worte hatten mich mitten ins Herz getroffen. Erzähl mir ein Geheimnis, dann erzähle ich dir auch eins.
In Wirklichkeit hat Xanda mir ihr Geheimnis niemals erzählt, trotzdem dachte ich immer, ich würde es irgendwann rauskriegen. Ich konnte es doch in ihren Augen sehen, damals, als sie zum letzten Mal das Haus verließ. Ich wusste es wegen ihres Koffers, der mit ihren Klamotten vollgestopft war und aufgeplatzt in Andres Auto gefunden wurde. Damals, als sie versucht hatten, für immer aus Seattle zu fliehen.
»Es war dieser Junge!«, sagte meine Mutter in der Nacht, in der sie starb. »Dieser Andre ist schuld, wegen seiner Trinkerei.« Und Dad, weil er ihn in unser Leben gebracht hat.
In den fünf Jahren nach Xandas Tod blieben meine Eltern hinter verschlossenen Türen verschwunden, jeder für sich. Zutritt für Unbefugte verboten – Mom vergrub sich in ihrem Theater und in ihrer Gebetsduselei, Dad in seiner Baufirma. Mich ließen sie allein zurück, allein mit der Frage, welche Rolle Xanda eigentlich in ihrem Leben gespielt hatte, die ich nun nicht erfüllen konnte? Welches Geheimnis hatte sie? Und wie konnte ich es herausfinden?
Jede Entscheidung kann zu etwas Unwiderruflichem führen , hätte mein Freund Kamran gesagt. Ich sollte sie vorsichtig treffen.
Kamran lernte ich im vergangenen Februar kennen, als er meine Labyrinth-Zeichnungen in der Kunstausstellung der Elna-Mead-School betrachtete. Ein Kerl, der mir noch nie zuvor aufgefallen war, der aber ständig direkt neben dem gläsernen Ausstellungskasten herumlungerte und in den Linien und Irrwegen meiner Labyrinthe versank, als versuchte er, ihnen zu folgen.
Er war nicht viel größer als ich, trug eine Nickelbrille, Springerstiefel und hielt seinen Motorradhelm lässig in der Hand. Irgendwann stand er jeden Tag da, war in die Bilder vertieft und schrieb irgendetwas in sein kleines Notizbuch. Wäre er nicht so verdammt heiß gewesen, ich hätte es wohl echt merkwürdig gefunden.
Essence war meine Spionin und Vertraute – damals, als wir noch Freundinnen waren, bevor Delaney Pratt alles veränderte.
»Jepp, er ist noch da«, sagte Essence und knallte im Chemieraum ihre Bücher neben mir auf den Tisch. »Glaubst du, dass er ein Freak ist oder so?«
»Nein. Ich finde ihn süß. Ich hab ihn noch nie hier gesehen. Meinst du, er ist ein Austauschschüler? Ooh, vielleicht ist er aus Deutschland oder Israel oder so. Ich finde, er sieht irgendwie europäisch aus, oder?« Und ein wenig wie con leche , hoffte ich.
»Keine Ahnung. Vielleicht weiß Eli mehr.«
Eli war Essence’ neue Eroberung, besser gesagt ihre erste Eroberung. Sie hatte übermäßig viel Zeit damit verbracht, ihm und seinem Mund irgendwie näher zu kommen, darum hatte ich sie außerhalb des Chemielabors auch nicht mehr so oft gesehen. Sie hatten sich in der Theater-AG kennengelernt, wo Essence sich den Feinschliff für ihre Bühnenpräsenz holte, während ich mich immer intensiver auf
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