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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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mich!« Und im Laufen sagte ich noch, gerade als wir auf dem Kirchenplatz angekommen waren, »es ist noch nicht zwölf!«, und ich stürzte vor die Kirchentür, und tatsächlich stand ein Mann davor, groß, schwarz, und ich dachte, dem wirfst du, so, daß es dem Fallenden ja nicht weh tut, den Viktor Halbnarr vor die Füße. Ich tat’s und die Glocke schlug zwölf. Da lag der Halbnarr schon vor den Füßen des Mühlenbesitzers und streckte mit vollem Recht seine Hände nach dem Geld aus.
    Recht erstaunt über das Ganze, aber endlich doch, zog dann, nachdem ich mich dem Mühlenbesitzer vorgestellt und ihn angeherrscht hatte, der große schwarze Mühlenbesitzer seine große schwarze Brieftasche, mehr weil erAngst hatte, weniger weil er einsah, daß er die Wette verloren hatte, und blätterte dem auf dem Boden liegenden Viktor Halbnarr acht Hundertschillingscheine in die Hand.
    »Gewettet ist gewettet«, sagte der Mühlenbesitzer, der mit der Möglichkeit, daß den Viktor Halbnarr mitten im Hochwald einer aufklauben könne und mit ihm nach Föding rennen, nicht gerechnet hatte. Er habe, sagte der Mühlenbesitzer, nicht einen Groschen mehr auf das Leben des Viktor Halbnarr gegeben. Ihn habe es gewundert, daß einer überhaupt eine solche Wette eingehen kann.
    »Ich habe den Halbnarr schon tot gesehen!« sagte der Mühlenbesitzer, und dann: »Ach ja, die Ärzte! Wirklich, in alles pfuschen die Ärzte hinein!« und war verschwunden. Den Halbnarr schulterte ich und nahm ihn auf meinen auch noch rechtzeitigen Krankenbesuch mit. Nachher bat ich im nahen Gasthaus für Halbnarr um ein Bett für die restliche Nacht, das ich im voraus bezahlte.
    Wir kamen überein, uns mit uns nicht mehr zu beschäftigen. Unsere Verabschiedung benützte Halbnarr merkwürdigerweise dazu, mir zu danken. Für was? frage ich mich, und ich dachte, unseren Kontrakt gänzlich außer acht lassend, auf dem Nachhauseweg, daß er jetzt zwar die Wette, also achthundert Schilling, also ein Paar von den besten Juchtenstiefeln von unserem besten Schuhmacher, gewonnen, aber seine Holzbeine verloren hat. Die kosten ihn zweieinhalbtausend. Was für ein Mensch, dachte ich im Hochwald, der mir auf diesem Heimweg so zusetzte, daß ich glaubte, ich müsse umkommen, ist der Halbnarr? Ist der verrückt?

A TTACHÉ AN DER FRANZÖSISCHEN B OTSCHAFT
    Ferientagebuch, Schluß.
    21.9.
    Während des Abendessens zeigte sich, in wie kurzer Zeit eine in diesem Falle durch mehrere im einzelnen unbedeutende, im Zusammenwirken aber doch entscheidende Ursachen herbeigeführte glückliche Stimmung und Gesellschaft plötzlich zu einer verdüsterten werden kann. Als hätten wir uns dem Entsetzlichen, an das wir denken mußten, während wir aßen, nicht ausliefern wollen, fürchteten wir die Konsequenzen aller Gedanken. In der größten Unruhe, in welcher Vermutungen und Befürchtungen zu einem vor allem für die Ehefrau des Abgängigen entsetzlichen Schweigen geführt hatten, war pünktlich mit dem Nachtmahl begonnen worden. Mein Onkel war von der Waldinspektion nicht zurück. Wir hatten ihn gesucht, erfolglos. (Die Tatsache seines Ausbleibens war deshalb von einer solch lähmenden Wirkung, weil er, solange zurückgedacht werden kann, noch nie unpünktlich von der abendlichen Waldinspektion nach Hause gekommen war.)
    Während wir schweigend das Nachtmahl einnahmen, habe ich vor allem die Verhaltensweise der Frau meines Onkels studiert. Aber nicht die Beschreibung der Anspannung, ja Verzweiflung der Tischgesellschaft, die, wie ich heute weiß, meinen Onkel naturgemäß mit einer Reihe von grauenhaften Unglücksfällen, Verbrechen in Zusammenhang gebracht hat, interessiert mich jetzt, nur das, was mein Onkel, nachdem er völlig überraschend eine halbe Stunde nach Essensbeginn erschienen war, zu berichten gehabt hatte.
    Der schon nicht mehr Erwartete war eingetreten und hatte sich, als sei überhaupt nichts geschehen, auf seinen Platz gesetzt und erzählt, er habe im Wald, in dem Stück Mischwald, das an den Fichtenwald grenzt, ohne vorher auch nur das geringste in bezug auf diese Begegnung wahrgenommenzu haben, einen jungen Mann, wie er sagte, »einen der stattlichsten jungen Männer«, getroffen. Vorzüglich gekleidet sei der Mensch gewesen. Das Gesicht des Fremden hatte mein Onkel der Witterung entsprechend nicht sehen, seine Stimme aber sofort als die eines überdurchschnittlich Intelligenten klassifizieren können. (Schon im ersten Augenblick hatte mein Onkel die Begegnung mit dem

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