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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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zurück. Jetzt sind wir zweimal zum Parlament und zweimal zum Schweizertrakt und wieder zurück gegangen«, sagte er, »das genügt. Wenn Sie wollen«, sagte er, »begleiten Sie mich ein Stück nach Hause. Noch nie hat mich auch nur ein einziger Mensch von hier ein Stück nach Hause begleitet.«
    Er logiere im Zwanzigsten Bezirk.
    Er hause in der Wohnung seiner Eltern, die vor sechs Wochen (»Selbstmord, junger Mann, Selbstmord!«) gestorben seien.
    »Wir müssen über den Donaukanal«, sagte er.
    Mich interessierte der Mensch, und ich hatte Lust, ihn solange wie möglich zu begleiten.
    »Am Donaukanal müssen Sie zurückgehen«, sagte er, »Sie dürfen mich nicht weiter als bis zum Donaukanal begleiten. Fragen Sie, bis wir beim Donaukanal angekommen sind, nicht warum! «
    Hinter der Rossauerkaserne, hundert Meter vor der Brücke, die in den Zwanzigsten Bezirk hinüber führt, sagte der Mann plötzlich, stehengeblieben, in das Kanalwasser hineinschauend: »Da, an dieser Stelle.«
    Er drehte sich nach mir um und wiederholte: »An dieser Stelle.«
    Und er sagte: »Ich stieß sie blitzschnell hinein. Die Kleider, die ich anhabe, sind ihre Kleider.«
    Dann gab er mir ein Zeichen, das hieß: verschwinde!
    Er wollte allein sein.
    »Gehen Sie!« kommandierte er.
    Ich ging nicht sofort.
    Ich ließ ihn aussprechen: »Vor zweiundzwanzig Jahren und acht Monaten«, sagte er.
    »Und wenn Sie glauben, daß es in den Strafanstalten ein Vergnügen ist, so irren Sie sich! Die ganze Welt ist eine einzige Jurisprudenz. Die ganze Welt ist ein Zuchthaus. Und heute abend, das sage ich Ihnen, wird in dem Theater da drüben, ob Sie es glauben oder nicht, eine Komödie gespielt. Tatsächlich eine Komödie.«

V IKTOR H ALBNARR
E IN W INTERMÄRCHEN
    Über einen Mann, müßt ihr euch vorstellen, der Viktor Halbnarr hieß und keine Beine mehr hatte, stolperte ich gestern nacht auf dem Weg durch den Hochwald. Noch dazu hatte ich es gestern besonders eilig, denn ich bin ja neben meiner Vorliebe für das Nichtstun auch noch Arzt: Ein gesunder Mensch auf der einen Seite des Hochwalds, in Traich, hatte mich zu einem mit ihm verwandten kranken auf der anderen Seite des Hochwalds, nach Föding, gerufen, zu einem, der plötzlich an einer Kopfkrankheit litt, deren entsetzliche Wirkungen zwar in den medizinischen Büchern stehen, deren Ursachen sich aber kein Mensch erklären kann. Kurz und gut, ich habe zu dem Patienten laufen wollen, durch den Hochwald, durch den tiefen Schnee, versteht sich, unter Anwendung meiner vorzüglichsten Durchdenschneewatekünste, um auf einmal und, wie man sich denken kann, erschrocken, mitten im Hochwald über den Viktor Halbnarr zu stolpern.
    »Viktor Halbnarr«, so hatte sich der, über den ich gestolpert war und den ich vorher in meinem ganzen Leben nicht ein einziges Mal gesehen hatte, vorgestellt.
    »Die Lokomotive hat sie mir vom Körper heruntergerissen!« rief der Mann in dem Augenblick, in welchem ich feststellte, daß er keine Beine mehr hatte, aus, und zwar so, als hätte der Unglückliche das Unglück gerade erst hinter sich. Aber da fiel mir ein, daß durch den Hochwald ja gar kein Zug fährt, es führen keine Geleise durch den Hochwald, und daß ich ja auch kein Schreien gehört hatte, nichts Menschliches, und »natürlich«, sagte der Viktor Halbnarr, »ist das Unglück schon acht Jahre aus!« Er liege mitten im Hochwald mitten auf der Straße, weil seine beiden Beine, seine Holzbeine, »vielleicht, weil ich einmal versucht habe, schneller als sonst zu laufen«, sagte der Viktor Halbnarr, plötzlich zusammengebrochen seien. »Ich habe auf einmalvergessen, daß ich Holzbeine habe, keine eigenen, ich habe geglaubt, daß ich wieder eigene Beine habe!« Er sei froh, daß ein Mensch aufgetaucht sei, nämlich ich. Ich sei ihm außerdem, selbst in der Finsternis, sympathisch, meiner Stimme wegen, meiner Schritte. »Ich wäre«, sagte der Viktor Halbnarr zu mir, »wenn Sie nicht gekommen wären, unweigerlich eines entsetzlichen Todes gestorben. Sie wissen ja, der entsetzlichste Tod ist der, der eintritt, wenn man erfriert.«
    Als ich sagte, daß ich Arzt sei, war der Mann, dessen Name, nicht dessen Unglück und dessen augenblicklicher Zustand mich, das muß ich zugeben, am allermeisten beschäftigte (man denke, er hieß Halbnarr!), in einem noch viel größeren Maße glücklich, als wenn ich gesagt hätte, ich sei Spengler oder Installateur oder Bäcker oder Bauer. Als ich ihn fragte, wie er denn in den selbst für

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