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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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philosophischer Natur in der Dämmerung haben ihn außer Haus gehen lassen. Freilich, ein Mensch allein im Wald in der Finsternis ist nicht nur hier, ist überall aufs empfindlichste verdächtig. Aber dieser Gedanke hatte meinen Onkel nicht beschäftigt. »Zutrauen«, sagte er, »gegenseitiges Zutrauen.«
    Nicht einen Augenblick habe mein Onkel an eine Schußwaffe gedacht.
    »Es war in der Dämmerung, die schon finster ist«, sagte er.
    »Merkwürdig«, sagte er, und dann: »Nachdem ich dem jungen Mann über Düngung und Dunkelschlag, über die Schattenholzarten, eine sehr interessante Geschichte über die Weymouthskiefer erzählt hatte, waren wir auf die Politik zu sprechen gekommen. Wieder habe ich die Feststellung gemacht, daß das Gespräch zweier intelligenter Männer naturgemäß immer auf die Politik, auf das Politische, auf das Einundalles des klaren Verstandes kommen muß.Hier zeigte sich erst recht die hohe Intelligenz meines Partners. Ganz klar, habe ich mir gedacht, ein Franzose spricht!«
    (Was er über Demokratie zu sagen hatte, hatte auf meinen Onkel, der ein vollendeter Zuhörer ist, den größten Eindruck gemacht.)
    »Der Franzose wußte, was Demokratie ist«, sagte mein Onkel, »was der Staat heute, die Jugend vor allem und der Staat, die Zukunft und der Staat.«
    »Präzision«, sagte mein Onkel, »zeichnete den Franzosen aus, eine elegante Präzision.«
    Der junge Franzose war, berichtete mein Onkel, ein meisterhafter Aufklärer selbst der finstersten Zusammenhänge, nicht nur der europäischen, sondern der vollständigen Weltpolitik. Ohne auch nur ein einziges Mal aus der Geschichtsschreibung zu zitieren, gelang es ihm mit ein paar Sätzen, den heutigen Standpunkt der Geschichte so anschaulich zu machen, daß es die Bewunderung meines Onkels hervorrufen mußte .
    »Sie sind durch diese Schule gegangen, die es eigentlich gar nicht gibt und die doch die beste ist«, hatte mein Onkel zu dem jungen Mann gesagt.
    Die beiden waren bis zu den Eichen gegangen.
    »Ich habe dem Franzosen den Vorschlag gemacht, mit uns zu Abend zu essen«, sagte mein Onkel, »aber der Franzose hat meine Einladung abgelehnt. Er hat mich ersucht, ich möge ihn aus dem Wald hinausführen, denn er hatte die Orientierung verloren, und ich habe ihn hinausgeführt«, sagte mein Onkel. Dann: »Der Gedanke, diesen Menschen vielleicht zum letzten Mal gesehen zu haben, schmerzt mich.«
    Auf dem Rückweg durch den Mischwald sei ihm der Franzose als »einer der wichtigsten Menschen« in seinem Leben erschienen. (»Dieser Mensch ist ein durchaus bevorzugter«, sagte mein Onkel, »wie es eine Bevorzugung ist, einen solchen Menschen zu treffen.«)
    23.9.
    Heute hörte ich von einem Toten »mit durchschossenem Kopf« sprechen.
    25.9.
    »Es handelt sich um einen Attaché an der französischen Botschaft«, sagte mein Onkel.

A N DER B AUMGRENZE
    Am elften, spät abends, nahmen hier im Gasthaus ein Mädchen und ein junger Mann, wie sich herausstellte, aus Mürzzuschlag, ein Zimmer. Die beiden waren schon kurz nach ihrer Ankunft im Gastzimmer erschienen, um ein Nachtmahl einzunehmen. Ihre Bestellung gaben sie rasch, nicht im geringsten unbeholfen, auf, handelten jeder für sich dabei vollkommen selbständig; ich sah, daß sie gefroren hatten und sich jetzt, in Ofennähe, aufwärmten. Sie seien, meinten sie, über die Menschenlosigkeit, die hier herrsche, überrascht, und erkundigten sich, wie hoch Mühlbach liege. Die Wirtstochter gab an, daß wir uns über tausend Meter hoch befänden, das ist unwahr, ich sagte aber nicht »neunhundertachtzig«, ich sagte nichts , weil ich in der Beobachtung der beiden nicht gestört sein wollte. Sie hatten mich bei ihrem Eintreten in das Gastzimmer zuerst nicht bemerkt, waren dann, wie ich sah, über mich erschrocken, nickten mir zu, schauten aber nicht mehr zu mir herüber. Ich hatte gerade einen Brief an meine Braut zu schreiben angefangen, daß es klüger sei, schrieb ich ihr, noch eine Weile, bis ich selbst mich in Mühlbach eingewöhnt habe, bei ihren Eltern auszuharren; erst dann, wenn ich außerhalb des Gasthauses für uns beide, »möglicherweise in Tenneck«, schrieb ich, zwei Zimmer für uns beschafft habe, solle sie herkommen. Sie hatte mir in ihrem letzten Brief, von den Anklagen gegen ihre verständnislosen Eltern abgesehen, geschrieben, sie fürchte Mühlbach, und ich antwortete, ihre Furcht sei grundlos. Ihr Zustand verändere sich in der Weise krankhaft, daß sie jetzt alles fürchte. Dann,

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