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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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den Gesündesten unter Umständen tödlichen Hochwald, noch dazu zwischen elf und zwölf in der Nacht, hereinkomme, meinte er, daß er, und zwar erst eine Stunde zuvor, mit einem Mühlenbesitzer aus Traich, der ihm seit Jahren nur vom Hören, nicht vom Sehen bekannt sei, also in Traich, auf der einen Seite des Hochwalds, eine Wette abgeschlossen habe. Der Traicher Mühlenbesitzer habe mit ihm um ganze achthundert Schilling (das ist der Wert des besten Paares Juchtenstiefel von unserem besten Schuhmacher, das er, Halbnarr, sich schon seit zehn Jahren wünscht) gewettet, daß er, Halbnarr, wenn er um Punkt elf in Traich abgehe, nicht vor zwölf in Föding sei. In einer Stunde komme er mit seinen Holzbeinen nicht durch den Hochwald; nicht im Winter; nicht in einem solchen Winter; nicht in einer derartig kalten Nacht. Er, Halbnarr, habe selbst nicht geglaubt, bis zwölf in Föding zu sein, wäre aber doch (»Ich Unsinniger!«), weil man ja nichts unversucht, keine gute Gelegenheit, sich zu verbessern, ungenützt vorbeigehen lassen solle, wie ausgemacht um elf von Traich abgelaufen. Der Mühlenbesitzer habe ihm einen entsetzlichen Tod, nämlich den schon erwähnten des Erfrierens,vorausgesagt (»Wie recht der Mühlenbesitzer beinahe gehabt hätte!«). Nun, er, Halbnarr, habe zwar, meinte er, die Wette verloren, aber erfrieren müsse er, dank meiner, nicht. Noch dazu habe er das Glück, aus seiner fürchterlichen Lage, die, das bemerkte er ausdrücklich, wie alles auf der Welt ihre lächerliche Seite habe, »von einem Arzt«, von einem »Vertreter der Hohen Medizin«, von einem regelrechten Doktor gerettet zu werden.
    Ich hob ihn auf und klopfte ihm den meisten Schnee ab und stellte fest, daß seine beiden Holzbeine tatsächlich in der Mitte, wie eben zwei Holzbeine, abgebrochen waren. Kurz entschlossen hob ich den Mann, weil ich ja raschest zu meinem Patienten mußte, auf meine Schultern. Besser wäre gewesen, ich hätte ihn ohne Holzbeine tragen können, aber wir konnten beide die Schnallen, die eingefroren waren, nicht öffnen. Die zerbrochenen Holzbeine waren ihm an den Oberschenkeln angefroren, und ich dachte, der Mann muß fürchterliche Schmerzen haben, auch von seinem Erschrecken über den nahenden Tod geschwächt sein. Aber weil ein solcher Mensch große Schmerzen gewohnt ist (die ist man gewohnt, wenn man keine Beine mehr hat, keine eigenen, solche aus Knochen und Fleisch und Blut, wenn man nurmehr noch künstliche hat), jammerte er nicht, er flennte nicht, er heulte nicht, er schrie nicht, er beklagte sich überhaupt nicht. Nein, im Gegenteil, er war ja glücklich, gerettet zu sein, wie ich ihn geschultert und an den beiden zerbrochenen Holzbeinen, die ich mir fest übers Kreuz an den Brustkorb zu drücken getraute, gepackt hatte und so, wie mir vorkam, nicht nur verdoppelt, sondern, was das Gewicht, das ich jetzt zu tragen hatte, betrifft, verdreifacht, verfünffacht, verzehnfacht, vorwärts, so rasch als möglich aus dem Hochwald hinaus nach Föding zu kommen. Daß er, Halbnarr, noch vor zwölf in Föding sein und damit die Wette mit dem Mühlenbesitzer, der verabredungsgemäß nach einem Umweg mit seinem Wagen schon in Föding auf Halbnarr wartete, gewinnen werde, dachte er nicht. Er getrautesich solches nicht zu denken, ich aber hatte plötzlich nach einem Blick auf die Uhr, nämlich genau um halb zwölf, das Gefühl, ich, und auf meinem Rücken also auch Halbnarr, wir zwei könnten um zwölf in Föding sein, und so lief ich, der ich sowieso in Anbetracht des auf mich wartenden Patienten schnell genug durch den Hochwald gelaufen war, noch schneller, immer noch schneller durch den Hochwald, mit dem Mann auf dem Rücken, der, wie alle ohne Beine, recht fett und weich war und dessen zerbrochene Holzbeine abwechselnd ächzten und knisterten und quietschten und der sich vor lauter Angst über meine Schnelligkeit kein Wort mehr zu sagen getraute.
    Nur als wir schon aus dem Hochwald waren, kurz vor den Lichtern von Föding, sagte er: »Ist das nicht Föding?« Und ich antwortete: »Ja, Föding, Föding, ja!« Und er fragte, ob es schon zwölf sei, ich darauf: »Nein, nicht, es hat auch noch nicht geschlagen.«
    Während ich lief, als ob ich ohnmächtig gewesen wäre, meinte der Halbnarr, daß ausgemacht sei, sich mit dem Mühlenbesitzer nicht nur in Föding, sondern »vor der Kirchtür in Föding« zu treffen.
    »Vor der Kirchtür? Das trifft sich gut«, sagte ich, »denn gleich daneben wartet mein Patient auf

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