Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
Vom Netzwerk:
Menschenleere heraußen ... Gehen wir jetzt«, sagt der Mann, nachdem wir wieder bei der Meierei sind, »zum Schweizertrakt.«
    Ein Verrückter? dachte ich, wie wir zum Schweizertrakt gingen, nebeneinander, der Mann sagte: »Die Welt ist eine ganz und gar, durch und durch juristische, wie Sie vielleicht nicht wissen. Die Welt ist eine einzige ungeheuere Jurisprudenz. Die Welt ist ein Zuchthaus!«
    Er sagte: »Es ist genau achtundvierzig Tage her, daß ich hier im Volksgarten um diese Zeit zum letzten Mal einen Menschen angetroffen habe. Auch diesen Menschen habe ich gefragt, wie spät es ist. Auch dieser Mensch hat mir gesagt, daß es acht Uhr ist. Merkwürdigerweise frage ich immer um acht Uhr, wie spät es ist. Auch dieser Mensch ist mit mir bis vor das Parlament gegangen und bis vor den Schweizertrakt.Übrigens«, sagte der Mann, »habe ich, das ist die Wahrheit, meine Uhr nicht verloren, ich verliere meine Uhr nicht. Hier, sehen Sie, ist meine Uhr«, sagte er und hielt mir sein Handgelenk vors Gesicht, so daß ich seine Uhr sehen konnte.
    »Ein Trick!«, sagte er, »aber weiter: dieser Mensch, den ich vor achtundvierzig Tagen angetroffen habe, war ein Mensch Ihres Alters. Wie Sie, schweigsam, wie Sie, zuerst un schlüssig, dann entschlossen, mit mir zu gehn. Ein Naturwissenschaftsstudent«, sagte der Mann. »Auch ihm habe ich gesagt, daß eine Erschütterung, ein Zwischenfall, der lange Zeit zurückliegt, die Ursache dafür ist, daß ich mich jeden Abend hier im Volksgarten aufhalte. In Frauenhalbschuhen. Reaktionsgleichheit«, sagte der Mann, und: »Übrigens habe ich da noch niemals einen Polizisten gesehen. Seit mehreren Tagen meidet die Polizei den Volksgarten und konzentriert sich auf den Stadtpark, und ich weiß, warum ...«
    »Nun wäre es tatsächlich interessant«, sagte er, »zu wissen, ob in dem Augenblick, in welchem wir auf den Schweizertrakt zugehen, im Theater eine Komödie oder eine Tragödie gespielt wird ... Das ist das erste Mal, daß ich nicht weiß, was gespielt wird. Aber Sie dürfen es mir nicht sagen ... Nein, sagen Sie es nicht! Es müßte nicht schwer sein«, sagte er, »indem ich Sie studiere, mich ganz auf Sie konzentriere, mich ausschließlich nur mit Ihnen beschäftige, darauf zu kommen, ob in dem Theater augenblicklich eine Komödie oder eine Tragödie gespielt wird. Ja«, sagte er, »nach und nach würde mir das Studium Ihrer Person über alles, was in dem Theater vorgeht und über alles, was außerhalb des Theaters vorgeht, über alles in der Welt, das doch jederzeit vollkommen mit Ihnen zusammenhängt, Aufschluß geben. Schließlich könnte einmal tatsächlich der Zeitpunkt eintreten, in welchem ich dadurch, daß ich Sie auf das intensivste studiere, alles über Sie weiß ...«
    Als wir vor der Mauer des Schweizertraktes angekommenwaren, sagte er: »Hier, an dieser Stelle, hat sich der junge Mann, den ich vor achtundvierzig Tagen getroffen habe, von mir verabschiedet. Auf welche Weise wollen Sie wissen? Vorsicht! Ah!«, sagte er, » Sie verabschieden sich also nicht? Sie sagen nicht Gute Nacht? Ja«, sagte er, »dann gehen wir vom Schweizertrakt wieder zurück, dorthin, von wo wir gekommen sind. Wo sind wir denn hergekommen? Achja, von der Meierei. Das Merkwürdige an den Menschen ist, daß sie sich selber andauernd mit anderen Menschen verwechseln. Also«, sagte er, »Sie haben die heutige Vorstellung besuchen wollen. Obwohl Sie, wie Sie sagen, das Theater hassen. Das Theater hassen? Ich liebe es ...« Jetzt fiel mir auf, daß der Mann auch einen Frauenhut auf dem Kopf hatte, die ganze Zeit hatte ich das nicht bemerkt.
    Auch der Mantel, den er anhatte, war ein Frauenmantel, ein Frauenwintermantel.
    Er hat tatsächlich lauter Frauenkleider an, dachte ich.
    »Im Sommer«, sagte er, »gehe ich nicht in den Volksgarten, da wird auch kein Theater gespielt, aber immer, wenn im Theater gespielt wird, gehe ich in den Volksgarten, dann, wenn Theater gespielt wird, geht außer mir niemand mehr in den Volksgarten, weil der Volksgarten dann viel zu kalt ist. Vereinzelt kommen junge Männer in den Volksgarten herein, die ich, wie Sie wissen, sofort anspreche und auffordere, mitzugehn, einmal vor das Parlament, einmal vor den Schweizertrakt ... und vom Schweizertrakt und von der Meierei immer wieder zurück ... Aber kein Mensch ist bis jetzt mit mir, und das fällt mir auf«, sagte er, » zweimal bis vor das Parlament gegangen und zweimal bis zum Schweizertrakt und also viermal zur Meierei

Weitere Kostenlose Bücher