Erzaehlungen
Rouleaus waren herabgelassen, und nur durch die obere Spalte fiel ein Sonnenstrahl gerade vor den weißen Ofen hin. An dem Tisch in der Mitte des Zimmers saß in einem Lehnstuhl Herr Rupius; vor ihm lagen aufgeschichtete Blätter, von denen er eben eines wegtat, um das nächste zu betrachten. Berta sah, daß es Stiche waren.
»Ich danke Ihnen,« sagte er, »daß Sie mich wieder einmal besuchen.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Sie sehen, womit ich da eben beschäftigt bin? Nun, es ist eine Sammlung von Stichen nach alten Niederländern. Glauben Sie mir, gnädige Frau, es ist ein großes Vergnügen, alte Stiche zu betrachten.«
»Oh freilich.«
»Sehen Sie, es sind sechs Bände, oder vielmehr sechs Mappen, jede zu zwanzig Blättern; ich werde wohl den ganzen Sommer brauchen, um sie wirklich zu kennen.«
Berta stand an seiner Seite und blickte auf den Stich, der eben vor ihm lag und der eine Jahrmarktsszene von Teniers darstellte. »Den ganzen Sommer,« sagte sie zerstreut.
Rupius wandte sich zu ihr. »Jawohl,« sagte er mit leicht zusammengepreßten Zähnen, als gälte es, einen Standpunkt zu verteidigen, »was ich eben heiße, ein Bild kennen. Darunter verstehe ich, ein Bild im Innern sozusagen nachzeichnen können, Linie für Linie. Dies hier ist ein Teniers, das Original hängt im Haag. Warum reisen sie nicht nach dem Haag, gnädige Frau, wo so schöne Teniers zu sehen sind und mancherlei anderes?«
Berta lächelte. »Wie kann ich daran denken, solche Reisen zu machen?«
»Nun freilich,« sagte Herr Rupius. »Der Haag ist sehr schön, ich war dort vor vierzehn Jahren; damals war ich achtundzwanzig, heut bin ich zweiundvierzig oder auch vierundachtzig.« – Er legte wieder ein Blatt zur Seite. »Das hier ist ein Ostade, ›der Pfeifenraucher‹. Nun ja, man sieht wohl, daß er eine Pfeife raucht. Original in Wien.«
»Ich glaube, an dieses Bild erinnere ich mich.«
»Wollen Sie sich nicht mir gegenübersetzen, gnädige Frau, oder hier an meine Seite, wenn Sie die Bilder mit mir ansehen wollen? Das hier ist ein Falckenborgh – wundervoll, nicht wahr? Nur ganz im Vordergrund scheint es so nichtig, so begrenzt; ja, nichts als ein Bauer, der mit einer Bäuerin tanzt, und da eine Alte, die sich darüber ärgert, und hier ein Haus, und aus der Türe tritt einer mit einem Eimer Wasser. Ja, das ist freilich nichts, aber da hinten, sehen Sie, da ist die ganze Welt, blaue Berge, grüne Städte, der Himmel drüber mit Wolken und nebstbei ein Tournier – haha! – es gehört wohl nicht dazu in gewissem Sinn, aber in einem anderen Sinn gehört es eben doch dazu. Denn Hintergründe sind überall, und darum ist es sehr richtig, daß hier gleich hinter dem Bauernhaus die Welt anfängt mit ihren Tournieren und ihren Bergen und Flüssen und Festungen und Weingärten und Wäldern.« Er zeigte mit einem kleinen, elfenbeinernen Papiermesser auf die einzelnen Partien des Bildes, von denen er eben sprach. »Gefällt's Ihnen? Es hängt auch in der Wiener Galerie. Sie müßten es kennen.«
»Es ist schon sechs Jahre, daß ich nicht mehr in Wien lebe, und auch viele Jahre vorher war ich nicht mehr im Museum.«
»So? Ich bin oft dort herumgegangen, auch vor diesem Bild bin ich gestanden. Ja,
gegangen
bin ich, früher einmal.« Er sah sie beinah lachend an, und sie konnte vor Befangenheit nicht antworten. Dann sprach er unvermittelt weiter: »Ich glaube, ich langweile Sie mit den Bildern. Warten Sie, meine Frau kommt gleich nach Hause. Sie wissen doch, daß sie jetzt nach Tisch immer zwei Stunden herumläuft? Sie fürchtet, zu stark zu werden.«
»Ihre Frau sieht so schlank und jung aus wie ... Nun, ich finde, seit ich hier bin, hat sie sich gar nicht verändert.« Berta war es, als wenn das Antlitz von Rupius ganz starr würde. Dann sagte er plötzlich in harmlosem Tone, der zu seinem Gesichtsausdruck gar nicht stimmte:
»Das ruhige Leben in so einer kleinen Stadt, ja das erhält jung. Es war eine kluge Idee von mir und von ihr, denn es war eine gemeinschaftliche Idee von uns beiden, uns hierher zurückzuziehen. Wer weiß, in Wien wäre es schon ganz zu Ende.«
Berta konnte nicht erraten, wie er dieses »zu Ende« meinte, ob er es aufsein Leben, auf die Jugend seiner Frau oder sonst irgendwas bezog. Jedenfalls bedauerte sie, daß sie heute gekommen war; sie hatte ein Gefühl von Beschämung, so gesund zu sein.
»Hab' ich Ihnen gesagt,« fuhr Rupius fort, »daß ich diese Mappen von Anna bekommen habe? Ein
Weitere Kostenlose Bücher