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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schnitzler
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vergehen.«
    Sie gingen die Treppe hinab, in den Hof, in dessen Mitte man eine kleine Wiese angelegt hatte. Rückwärts schloß ihn eine Mauer ab, an der einiges Gesträuch und zwei junge Bäume standen, die vorläufig noch durch Stöcke gestützt werden mußten. Über die Mauer hinweg sah man nur den blauen Himmel; an stürmischen Tagen hörte man hier das Rauschen des nahen Flusses. Mit der Lehne gegen die Mauer standen zwei Gartenstühle aus Stroh und vor ihnen ein kleines Tischchen; auf diese Stühle setzten sich Berta und Elly, ohne daß Elly den Arm der Tante losließ.
    »Willst du mir nicht sagen, Tante –«
    »Was denn, Elly?«
    »Schau, ich bin ja jetzt schon groß, erzähl' mir doch von ihm.«
    Berta schrak leise zusammen, denn ihr war mit einemmal, als bezöge sich diese Frage nicht auf ihren verstorbenen Mann, sondern auf irgendeinen andern. Und plötzlich sah sie das Bild Emil Lindbachs vor sich, so wie sie es in der illustrierten Zeitung gesehen; aber gleich war die Erscheinung und der leise Schreck vorbei, und sie empfand eine Art Rührung über die schüchterne Frage des jungen Mädchens, das glaubte, sie traure noch immer um ihren verstorbenen Mann, und es würde sie trösten, wenn sie über ihn reden könnte.
    In diesem Augenblick ertönte Richards Stimme an einem Fenster, das in den Hof hinunter schaute: »Darf ich auch zu euch hinunter, oder habt ihr Geheimnisse?« Jetzt fiel Berta zum erstenmal eine Ähnlichkeit auf, die er mit Emil Lindbach hatte. Sie dachte aber, es wäre vielleicht nur das Jugendliche seines Wesens und die etwas langen Haare, die an ihn gemahnten. Er war jetzt beinah so alt, als Emil damals gewesen.
    »Der Tisch ist reserviert,« sagte er, indem er in den Hof trat. »Kommst du mit uns, Tante Berta?« Er setzte sich auf die Lehne des Stuhls, auf dem sie saß, streichelte ihr die Wange, indem er in seiner frischen und doch etwas zärtelnden Art sagte: »Komm' mit, mir zulieb, schöne Tante.«
    Berta schloß unwillkürlich die Augen. Ein Wohlbehagen überkam sie, wie wenn Kinderhände, wie wenn die kleinen Finger ihres eigenen Buben ihr die Wange streichelten. Bald aber fühlte sie, daß sich irgendeine andere Erinnerung beigesellte. Sie mußte an einen Spaziergang denken, mit Emil, im Stadtpark, abends nach dem Konservatorium. Damals hatte er mit ihr auf einer Bank ausgeruht und zärtlich ihre Wangen berührt. War das nur einmal geschehen? Nein – viel öfter, freilich, zehn, zwanzigmal waren sie auf jener Bank gesessen, und er hatte ihr die Wange gestreichelt. Wie sonderbar, daß ihr das jetzt wieder einfiel!
    An diese Spaziergänge hätte sie gewiß nie wieder gedacht, wenn nicht Richard zufällig – Aber wie lange ließ sie sich das noch gefallen? »Richard!« rief sie aus und öffnete die Augen. Da sah sie ihn so lächeln, daß sie meinte, Richard müßte ihre Erinnerungen erraten haben. Das war natürlich ganz unmöglich, denn man wußte ja hier kaum, daß sie den Violinvirtuosen Emil Lindbach kannte. Im übrigen, kannte sie selbst ihn denn heute noch? Der, an den sie jetzt dachte, war ja ein ganz anderer, das war der hübsche Junge, den sie als ganz junges Mädchen geliebt hatte. So schweiften ihre Gedanken immer weiter, in die Vergangenheit zurück, und es schien ihr ganz unmöglich, wieder in die Gegenwart zurückzukehren und mit den beiden Kindern zu plaudern. Sie sagte ihnen Adieu und ging.
    Über den Straßen lag eine schwere Nachmittagssonne. Die Läden waren gesperrt, die Wege beinahe menschenleer. An den Tischchen vor dem Kaffeehaus auf dem Marktplatz saßen ein paar Offiziere. Berta sah nach den Fenstern des ersten Stockwerks, in welchem das Ehepaar Rupius wohnte. Sie war schon lange nicht bei ihnen gewesen, sie wußte ganz genau, seit wann: seit dem zweiten Weihnachtsfeiertag. Damals hatte sie Herrn Rupius allein zu Hause getroffen, und damals hatte er ihr erzählt, sein Leiden wäre unheilbar. Sie wußte nun auch, warum sie seitdem nicht bei ihm gewesen: ohne sich's einzugestehen, hatte sie eine Art Angst davor gehabt, diese Wohnung zu betreten, die sie damals in heftiger Bewegung verlassen. Heute war es ihr aber, als müßte sie hinauf; es schien ihr, als wenn im Lauf der letzten Tage sich irgendein Band zwischen ihr und dem Kranken geknüpft, und als wenn selbst der Blick, mit dem er sie gestern auf dem Spaziergang still betrachtet, etwas zu bedeuten gehabt hätte.
    Als sie ins Zimmer eintrat, mußten ihre Augen sich erst an das Halbdunkel gewöhnen; die

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