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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schnitzler
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aus ihrer Kinderzeit kam ihr wieder in den Sinn, wo sie und ihre Brüder vom Fenster aus sich darüber unterhielten, welchem Bekannten der oder jener Vorübergehende ähnlich sähe. Solche Ähnlichkeiten zu entdecken, war für sie jetzt mit Schwierigkeit verbunden, weil ihr Zimmer im dritten Stock gelegen war, aber anderseits erleichterte die Entfernung die Willkürlichkeit der Deutung. Zuerst kam eine Frau, die der Cousine Agathe ähnlich sah, später jemand, der an ihren Klavierlehrer aus dem Konservatorium erinnerte, Arm in Arm mit einer, die so aussah, wie die Köchin ihrer Schwägerin. Ein junger Bursch sah ihrem Bruder, dem Schauspieler, ähnlich, gleich hinter ihm, und zwar in Hauptmannsuniform, kam ihr verstorbener Vater des Wegs, der blieb eine Weile vor dem Hotel stehen, blickte auf, gerade als wenn er sie suchte, und verschwand dann im Tor. Sie erschrak einen Augenblick so, als wenn es wirklich ihr Vater wäre, der als Gespenst aus dem Grab gekommen war. Dann lachte sie absichtlich, laut, und versuchte, das Spiel fortzusetzen, aber es gelang nicht mehr. Sie blickte nur nach dem Dienstmann aus. Endlich beschloß sie, nur um die Zeit hinzubringen, ihr Mittagmahl einzunehmen. Nachdem sie es bestellt, trat sie wieder ans Fenster. Aber nun blickte sie nicht mehr in die Richtung, aus welcher der Dienstmann kommen mußte, sondern folgte den Omnibus- und Pferdebahnwagen, die alle menschenüberfüllt den Vororten zufuhren. Jetzt sah sie wieder den Hauptmann von früher, wie er eben auf eine Tramway aufsprang, eine Virginia im Mund. Er sah ihrem verstorbenen Vater gar nicht mehr ähnlich. Sie hörte ein Geräusch hinter sich: der Kellner war eingetreten. Berta aß wenig und trank den Wein sehr rasch. Sie wurde schläfrig und lehnte sich in die Ecke des Diwans. Die Gedanken verschwammen ihr, in ihren Ohren tönte es wie Nachklänge von der Orgel, die sie in der Kirche vernommen hatte. Sie schloß die Augen, und mit einem Mal, wie hervorgezaubert, sah sie das Zimmer von gestern, und hinter den roten Vorhängen leuchtete das weiße Bett. Sie selbst saß wieder vor dem Pianino, aber ein anderer hielt sie umfaßt, ihr Neffe Richard. Sie riß gewaltsam die Augen auf, erschien sich über alle Maßen verworfen, und eine jähe Furcht überkam sie, als hätte sie für diese traumhaften Vorstellungen eine Sühne zu erwarten. Wieder ging sie zum Fenster. Eine Ewigkeit schien ihr verflossen, seit sie den Dienstmann ausgeschickt. Sie überlas noch einmal den Brief Emils. Ihr Blick haftete auf den letzten Worten: »Ich bin ganz der Deine«, und sie sprach sie aus, laut, mit Zärtlichkeit, und dachte ähnlicher Worte von heute Nacht. Sie erfand sich einen Brief, der jetzt gleich da sein und der lauten mußte: »Meine liebste Berta! Gott sei Dank, daß Du morgen noch da bist! Ich erwarte Dich bestimmt um drei bei mir«, oder: »Wir wollen morgen den ganzen Tag miteinander verbringen« oder gar: »Ich habe meine Verabredung rückgängig gemacht, wir sehen uns heute noch. Komme gleich zu mir, ich erwarte Dich mit Sehnsucht!«
    Nun wie es immer sei, wenn auch nicht heute, bevor sie Wien verläßt, wird sie ihn wiedersehen. Es ist ja gar nicht anders denkbar. Wozu also diese entsetzliche Aufregung, als wenn alles vorüber wäre? Warum nur bleibt die Antwort so lange aus? ... Er hat jedenfalls außer Haus gegessen – natürlich, er führt ja keine Wirtschaft! So kann er frühestens um drei wieder daheim sein ... Aber wenn er vor Abend nicht nach Hause kommt? ... Der Dienstmann hat zwar den Auftrag, jedenfalls zu warten – auch bis in die Nacht hinein ... aber was soll sie tun! Sie kann doch hier nicht die ganze Zeit am Fenster stehen und ausblicken? Die Stunden sind ja endlos! Sie könnte weinen vor Ungeduld, vor Verzweiflung! .... Sie geht im Zimmer auf und ab, dann steht sie wieder eine Weile am Fenster, dann setzt sie sich nieder, für kurze Zeit nimmt sie ihren Roman zur Hand, den sie in der Reisetasche mitgeführt, auch zu schlummern versucht sie, – aber es gelingt ihr nicht. Endlich wird es vier: bald drei Stunden sind vergangen, seit sie wartet. Da klopft es an die Tür, der Dienstmann tritt ein und übergibt ihr einen Brief. Sie reißt das Kuvert auf und, mit einer unwillkürlichen Bewegung, um dem fremden Menschen den Ausdruck ihrer Mienen zu verbergen, wendet sie sich zum Fenster. Sie liest:
    »Meine liebe Berta! Du bist sehr freundlich, daß Du mir noch die Auswahl zwischen den nächsten Tagen freistellst, aber, wie

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