Erzaehlungen
Ordnung. Ist keiner von den anderen Herren neugierig?‹ Einer rief wie zum Scherz: ›Nein, wir wünschen nichts zu erfahren.‹ Ein anderer fand plötzlich, daß man gegen diese Art, sich das Schicksal vorhersagen zu lassen, aus religiösen Gründen eingenommen sein müßte, und ein junger Leutnant erklärte heftig, man sollte Leute wie Marco Polo auf Lebenszeit einsperren. Den Prinzen sah ich mit einem unserer älteren Herren rauchend in einer Ecke stehen und hörte ihn sagen: ›Wo fängt das Wunder an?‹ Indessen trat ich zu Marco Polo hin, der sich eben zum Fortgehen bereitete, und sagte zu ihm, ohne daß es jemand hörte. ›Prophezeien Sie mir.‹ Er griff wie mechanisch nach meiner Hand. Dann sagte er: ›Hier sieht man schlecht.‹ Ich merkte, daß die Öllampen zu flackern begonnen hatten und daß die Linien meiner Hand zu zittern schienen. ›Kommen Sie hinaus, Herr Leutnant, in den Hof. Mir is lieber bei Mondschein.‹ Er hielt mich an der Hand, und ich folgte ihm durch die offene Tür ins Freie.
Mir kam plötzlich ein sonderbarer Gedanke. ›Hören Sie, Marco Polo,‹ sagte ich, ›wenn Sie nichts anderes können als das, was Sie eben an unserem Herrn Oberst gezeigt haben, dann lassen wir's lieber.‹ Ohne weiteres ließ der Zauberer meine Hand los und lächelte. ›Der Herr Leutnant haben Angst.‹ Ich wandte mich rasch um, ob uns niemand gehört hätte; aber wir waren schon durch das Kasernentor geschritten und befanden uns auf der Landstraße, die der Stadt zuführte. ›Ich wünsche etwas Bestimmteres zu wissen,‹ sagte ich, ›das ist es. Worte lassen sich immer in verschiedener Weise auslegen.‹ Marco Polo sah mich an. ›Was wünschen der Herr Leutnant? ... Vielleicht das Bild von der künftigen Frau Gemahlin?‹ – ›Könnten Sie das?‹ Marco Polo zuckte die Achseln. ›Es könnte sein ... es wär' möglich ...‹ – ›Aber das will ich nicht,‹ unterbrach ich ihn. ›Ich möchte wissen, was später einmal, zum Beispiel in zehn Jahren, mit mir los sein wird.‹ Marco Polo schüttelte den Kopf. ›Das kann ich nicht sagen ... aber was anderes kann ich vielleicht.‹ – ›Was?‹ – ›Irgend einen Augenblick, Herr Leutnant, aus Ihrem künftigen Leben könnte ich Ihnen zeigen wie ein Bild.‹ Ich verstand ihn nicht gleich. ›Wie meinen Sie das?‹ – ›So mein' ich das: ich kann einen Moment aus Ihrem künftigen Leben hineinzaubern in die Welt, mitten in die Gegend, wo wir gerade stehen.‹ – ›Wie?‹ – ›Der Herr Leutnant müssen mir nur sagen, was für einen.‹ Ich begriff ihn nicht ganz, aber ich war höchst gespannt. ›Gut,‹ sagte ich, ›wenn Sie das können, so will ich sehen, was heut in zehn Jahren in derselben Sekunde mit mir geschehen wird ... Verstehen Sie mich, Marco Polo?‹ – ›Gewiß, Herr Leutnant,‹ sagte Marco Polo und sah mich starr an. Und schon war er fort ... aber auch die Kaserne war fort, die ich eben noch im Mondschein hatte glänzen sehen – fort die armen Hütten, die in der Ebene verstreut und mondbeglänzt gelegen waren – und ich sah mich selbst, wie man sich manchmal im Traume selber sieht ... sah mich um zehn Jahre gealtert, mit einem braunen Vollbart, eine Narbe auf der Stirn, auf einer Bahre hingestreckt, mitten auf einer Wiese – an meiner Seite kniend eine schöne Frau mit rotem Haar, die Hand vor dem Antlitz, einen Knaben und ein Mädchen neben mir, dunklen Wald im Hintergrund und zwei Jagdleute mit Fackeln in der Nähe ... Sie staunen – nicht wahr, Sie staunen?«
Ich staunte in der Tat, denn das was er mir hier schilderte, war genau das Bild, mit welchem mein Stück heute Abend um zehn Uhr schließen und in dem er den sterbenden Helden spielen sollte. »Sie zweifeln,« fuhr Herr von Umprecht fort, »und ich bin fern davon, es Ihnen übel zu nehmen. Aber mit Ihrem Zweifel soll es gleich ein Ende haben.«
Herr von Umprecht griff in seine Rocktasche und zog ein verschlossenes Kuvert heraus. »Bitte, sehen Sie, was auf der Rückseite steht.« Ich las laut: »Notariell verschlossen am 4. Januar 1859, zu eröffnen am 9. September 1868.« Darunter stand die Namenszeichnung des mir persönlich wohlbekannten Notars Doktor Artiner in Wien.
»Das ist heute,« sagte Herr von Umprecht. »Und heute sind es eben zehn Jahre, daß mir das rätselhafte Abenteuer mit Marco Polo begegnete, das sich nun auf diese Weise löst, ohne sich aufzuklären. Denn von Jahr zu Jahr, als triebe ein launisches Schicksal sein Spiel mit mir, schwankten die
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