Erzaehlungen
Anekdoten aller Art, und die beiden jüngeren Kameraden, die seiner Frühreife gegenüber einen fast knabenhaften Eindruck machten, sahen in Bewunderung zu ihm auf. Auch zeigte er eine Trinkfestigkeit, die über seine Jahre ging. Da die Freunde ihm nicht nachstehen wollten, und sogar Beate sich verlocken ließ, mehr zu trinken als gewöhnlich, wurde die Stimmung bald ungezwungener, als sonst in diesem Hause üblich war. Beaten, die sich durch das bei aller Lustigkeit ihr gegenüber durchaus respektvolle Benehmen des Gastes angenehm berührt, ja dafür dankbar fühlte, erging es übrigens, wie manchmal in diesen Tagen, daß alles, was in der letzten Zeit geschehen war und an dessen Wirklichkeit sie nicht zweifeln konnte, ihr irgendwie als Traum oder doch als etwas wieder Gutzumachendes erschien. Es kam ein Augenblick, da sie, wie oft in früherer Zeit, den Arm um Hugos Schultern geschlungen hielt und mit den Fingern in seinen Haaren spielte, zu gleicher Zeit aber Fritz zärtlich lockend in die Augen sah und dabei über sich und die Welt sonderbar gerührt war. Später merkte sie, daß Fritz mit Rudi Beratoner angelegentlich flüsterte und ihm zu irgend etwas dringend zuzureden schien. Sie fragte wie scherzend, was denn die jungen Herren miteinander für gefährliches Zeug zu tuscheln hätten; Beratoner wollte mit der Sprache nicht heraus, Fritz aber erklärte, es sei nicht einzusehen, warum man nicht davon reden sollte; die Tatsache sei ja allgemein bekannt, daß Rudi Schauspieler vortrefflich zu kopieren verstehe, nicht nur die lebendigen, sondern auch die – Nun aber stockte er. Doch Beate, im tiefsten erregt und schon in leichtem Rausch, wandte sich hastig an Rudi Beratoner, und etwas heiser fragte sie: »Da können Sie also auch Ferdinand Heinold kopieren?« Sie nannte den berühmten Namen, als gehöre er einem Fremden zu. Beratoner wollte es nicht Wort haben. Er begreife den Fritz überhaupt nicht, früher einmal habe er solche Spaße getrieben, aber jetzt schon lange nicht mehr; auch habe er Stimmen, die er seit Jahren nicht gehört, selbstverständlich nicht mehr im Ohr, und wenn es schon sein müßte, so wollte er doch lieber irgendein Couplet in der Art eines beliebigen Komikers singen. Aber Beate ließ die Ausflüchte nicht gelten. Sie fühlte nichts anderes mehr als den Wunsch, die Gelegenheit nicht ungenützt vorübergehen zu lassen. Sie zitterte vor Verlangen, die geliebte Stimme, wenigstens im Abglanz, wieder zu hören. Daß dies Verlangen etwas Lästerliches bedeuten könnte, kam ihr im Nebel dieser Stunde kaum zu Bewußtsein. Endlich ließ Beratoner sich erbitten. Und klopfenden Herzens hörte Beate zuerst Hamlets Monolog »Sein oder Nichtsein« in Ferdinands heroischem Tonfall durch die freie Sommerluft klingen, dann Verse aus dem Tasso, dann irgendwelche längst vergessene Worte aus einem längst vergessenen Stück; hörte das Aufdröhnen und Hinschmelzen jener heißgeliebten Stimme und trank sie geschlossenen Auges wie ein Wunder in sich ein, bis es plötzlich, noch immer wie mit Ferdinands Organ, aber jetzt in seinem wohlbekannten Alltagston hart an ihrem Ohr erklang: »Grüß Gott, Beate!« Da riß sie, tief erschrocken, die Augen auf, sah hart vor sich ein frech verlegenes Gesicht, um dessen Lippen noch einen vergehenden Zug, der gespenstisch an Ferdinands Lächeln mahnte, begegnete einem irren Blick Hugos, einem dumm-traurigen Grinsen um Fritzens Mund und hörte sich selbst wie aus weiter Ferne ein höfliches Wort der Anerkennung an den vortrefflichen Stimmkopisten richten. Das Schweigen, das nun folgte, war dunkel und lastend; sie ertrugen es alle nicht lang, und gleich wieder schwirrten gleichgültig lustige Worte von Sommerwetter und Ausflugsfreuden hin und her. Beate aber erhob sich bald, zog sich in ihr Zimmer zurück, wo sie verstört in ihren Fauteuil sank und dann in einen Schlaf fiel, aus dem sie nach kaum einer Stunde, doch wie aus abgrundtiefer Nacht, emportauchte. Als sie später in den abendkühlen Garten trat, waren die jungen Leute fortgegangen, kehrten sehr bald ohne Rudi Beratoner wieder, von dem sie mit deutlicher Absicht kein Wort mehr sprachen; und es war für Beate ein leiser Trost, wie der Sohn und der Geliebte durch besonders rücksichtsvolles und zartes Benehmen den quälenden Eindruck von heute nachmittag zu verwischen trachteten.
Und jetzt, da Beate in der Dämmerstille einer einsamen Stunde sich der wahren Stimme ihres Gatten erinnern wollte, gelang es ihr nicht.
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