Erzaehlungen
Zeitung und war, wie er selbst mit wehmütigem Staunen fühlte, so fern von Sabinen, als lägen nicht nur viele Meilen zwischen ihm und ihr, sondern als wäre auch der Brief, in dem sie ihm ihre Hand angetragen, und der ihn in die Flucht getrieben hatte, nicht gestern, sondern vor vielen Wochen an ihn gelangt. Als er ihn hervornahm, schien ihm ein herber, beunruhigender Duft daraus emporzusteigen, und in einer ängstlichen Scheu, ihn wieder lesen zu müssen, sperrte er ihn in eine Lade. Am nächsten Morgen fragte er sich, wie er denn eigentlich diesen Tag und alle die nächsten verbringen sollte. Längst war er ein Fremder in seiner Vaterstadt geworden, die meisten Freunde waren ihm weggestorben, die Verbindungen mit den wenigen Überlebenden hatten sich allmählich gelockert und gelöst, nur seine Schwester hatte immer wieder ihre gelegentliche Anwesenheit zum Besuch von irgendwelchen uralten Leuten zu benützen gepflegt, die dem Bekanntenkreis der längst verstorbenen Eltern angehörten. So hatte denn Gräsler im Grunde daheim kein anderes Geschäft als die Unterredung mit seinem alten Freund, dem Rechtsanwalt Böhlinger, die ihm aber keineswegs dringend erschien.
Nachdem er seine Wohnung verlassen, machte er zuerst einen Gang durch die Stadt, wie meistens, wenn er nach langer Zeit wieder einmal zu kurzem Aufenthalt in die Heimat zurückgekehrt war. Eine gewisse leichte und beinahe wohltuende Rührung pflegte sich sonst bei solchen Wanderungen regelmäßig einzustellen, heute aber, unter dem schweren grauen Regenhimmel, blieb sie völlig aus. Ohne innere Bewegung ging er an dem alten Haus vorbei, von dessen schmalem hohen Eckfenster aus die Jugendgeliebte dem Gymnasiasten auf dem Wege von und zur Schule verstohlen zugewinkt und zugelächelt hatte, gleichgültig rauschte ihm der Brunnen im herbstlichen Park, den er in den alten Stadtgräben selbst hatte langsam entstehen sehen; und als er, aus dem Hof des altberühmten Rathauses hervortretend, um die Ecke in dem schmalen versteckten Gäßchen das uralte, fast verfallene Häuschen gewahrte, hinter dessen halbblinden, durch rote Vorhänge deutlich gekennzeichneten Fenstern er sein erstes armseliges, von wochenlanger Angst gefolgtes Abenteuer erlebt hatte, da war ihm, als hob' es sich von seiner ganzen Knabenzeit wie verstaubte und zerrissene Schleier.
Der erste Mensch, den er sprach, war der weißbärtige Tabakhändler in dem Laden, wo er sich mit Zigarren versorgte; als jener ihm sein Beileid zu dem Tode der Schwester in etwas weitschweifiger Weise aussprach, wußte Gräsler kaum, was er erwidern sollte, und er fürchtete sich davor, noch anderen Bekannten begegnen und die gleichen nichtssagenden Worte anhören zu müssen. Aber der nächste, den er traf, erkannte ihn nicht, und an einem dritten, der Miene machte, stehenzubleiben, ging er selbst mit eiligem, fast unhöflichem Gruß vorüber.
Nach dem Mittagessen, das er in einem ihm wohlbekannten alten, nunmehr aber allzu prunkvoll neu hergerichteten Gasthof einnahm, begab er sich zu Böhlinger, der, von seinem Eintreffen in der Stadt schon unterrichtet, ihn mit freundlicher Gelassenheit begrüßte und nach einigen teilnahmsvollen Worten näheres über den Tod Friederikens zu erfahren wünschte. Doktor Gräsler berichtete dem Jugendfreund mit gedämpfter Stimme und gesenktem Blick den traurigen Fall, und als er wieder aufsah, war er etwas verwundert, sich einem ältlichen, beleibten Herrn gegenüber zu sehen, dessen bartloses Gesicht, das er immer noch als ein jugendliches im Gedächtnis bewahrt hatte, sich recht fahl und verwittert ausnahm. Böhlinger zeigte sich zuerst sehr bewegt, schwieg lange, endlich zuckte er die Achseln und setzte sich an den Schreibtisch, als wollte er ausdrücken, daß den Überlebenden auch einem so beklagenswerten Ereignis gegenüber nichts anderes übrigbleibe, als sich den Forderungen des Tages entschlossen zuzuwenden. Dann öffnete er eine Lade, entnahm ihr eine Aktenmappe und machte sich daran, unter Vorweis des Testaments sowie anderer wichtiger Papiere die Erbschaftsangelegenheit in ausführlicher Weise zu behandeln. Da die Verstorbene erheblichere Ersparnisse hinterlassen hatte, als Gräsler vermutete, und er der einzige Erbe war, lag die Sache so, daß er von nun ab, ohne seine Praxis weiter auszuüben, einfach von seinen Renten bescheiden, doch immerhin behaglich hätte leben können, was ihm der Rechtsanwalt zum Schlüsse seiner Auseinandersetzungen zu verstehen gab. Aber
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