Erzaehlungen
geboren, war ein Sonderling, Egoist und Philister gewesen sein Leben lang. Das hatte eben auch Sabine sehr wohl empfunden, wie aus ihrem Briefe mit zwingender Deutlichkeit hervorging, wenn sie auch aus mancherlei Gründen, unter denen die sogenannte Liebe die geringste Rolle spielte, sich ihm an den Hals zu werfen behauptete. Ja wenn sie das wirklich getan hätte, dann sähe sich die Sache anders an. Aber das, was er da in der Rocktasche knittern fühlte, das war wohl alles eher als ein Liebesbrief.
Der Wagen, der allabendlich zur Fahrt nach dem Forsthaus bestellt war, wurde gemeldet. Dem Doktor Gräsler klopfte das Herz. Er konnte sich's ja in diesem Augenblick nicht verhehlen, daß er nur eines zu tun hatte: zu Sabinen eilen, zärtlich dankend die lieben Hände ergreifen, die sich den seinen so innig und rückhaltlos entgegenboten, das holde Wesen zur Frau verlangen, und wäre es selbst auf die Gefahr hin, daß es nur wenige Jahre oder gar Monate des Glücks waren, die sich ihm erschlossen. Aber statt die Treppe hinunterzustürzen, blieb er wie auf den Fleck gebannt stehen. Es war ihm, als hätte er vorher etwas endgültig klarzustellen und vermochte sich nicht zu besinnen, was es sein könnte. Plötzlich fiel es ihm ein: den Brief Sabinens mußte er noch einmal lesen. Er nahm ihn aus der Brusttasche hervor und begab sich in sein stilles Ordinationszimmer, um in völliger Ungestörtheit Sabinens Worte noch einmal auf sich wirken zu lassen. Und er las. Er las langsam, mit angespannter Aufmerksamkeit, und er fühlte sein Herz immer starrer werden. Alles Holde und Innige wollte ihm kühl, ja geradezu spöttisch erscheinen; und als er an die Stellen kam, in denen Sabine flüchtig seiner Zurückhaltung, seiner Eitelkeit, seiner Pedanterie Erwähnung tat, da war ihm, als wiederhole sie mit Absicht, was sie doch heute morgen schon ihm bis zum Überdruß und überdies mit Unrecht vorgeworfen hatte. Wie konnte sie sich's denn nur einfallen lassen, ihn einen Pedanten zu nennen, einen Philister, ihn, der ohne weiteres bereitgewesen war, ihr, und wie gerne, selbst einen wirklichen Fehltritt zu verzeihen? Und nicht nur, daß sie davon nicht das Geringste ahnte, sie mutete ihm sogar zu, daß er deswegen, gerade deswegen gezögert hätte. So wenig kannte sie ihn. Ja, das war es. Sie verstand ihn nicht. Und von hier aus schien ihm das ganze Rätsel seines Daseins plötzlich wie neu beleuchtet. Denn es war ihm nun klar, daß ihn eigentlich noch nie jemand wirklich verstanden hatte, weder Frau noch Mann! Nicht seine Eltern, nicht seine Schwester, so wenig als seine Kollegen und seine Patienten es getan hatten. Seine Verschlossenheit galt für Kälte, sein Ordnungssinn für Pedanterie, sein Ernst für Trockenheit; und so war er als ein Mensch ohne Überschwang und Glanz sein Leben lang zur Einsamkeit vorherbestimmt gewesen. Und weil er nun einmal so war und nicht anders und überdies um so viele Jahre älter als Sabine, darum konnte, darum durfte er das Glück nicht annehmen, das sie ihm darzubringen bereit war, oder sich bereit glaubte, und das wahrscheinlich das Glück gar nicht gewesen wäre. Hastig nahm er einen Briefbogen und begann ihr zu schreiben: »Liebes Fräulein Sabine! Ihr Brief hat mich ergriffen. Wie soll ich Ihnen danken, ich einsamer, alter Mann.« Ach, was für Unsinn, dachte er, zerriß das Blatt und begann aufs neue. »Meine liebe Freundin Sabine! Ich habe Ihren Brief, Ihren schönen, guten Brief. Er hat mich tiefbewegt. Wie soll ich Ihnen nur danken. Sie zeigen mir die Möglichkeit eines Glückes, von dem ich kaum zu träumen gewagt hätte, und darum, lassen Sie es mich gleich in diesem Zusammenhange aussprechen, wage ich auch nicht, es zu ergreifen, ich meine, nicht sofort zu ergreifen. Geben Sie mir ein paar Tage Zeit zur Überlegung, lassen Sie mich zum Bewußtsein meines Glückes kommen und, o liebe Freundin Sabine, fragen auch Sie sich noch einmal, ob Sie denn wirklich und wahrhaftig Ihre holde Jugend mir reifem Manne anvertrauen wollen.
Es fügt sich vielleicht gut, daß ich für einige Tage in meine Vaterstadt reisen muß, wie Ihnen ja schon bekannt ist. Nun gedenke ich meine Reise um einige Tage vorzurücken und statt am Donnerstag lieber schon morgen früh abzureisen. So werden wir einander etwa vierzehn Tage lang nicht sehen, und während dieser Zeit soll sich alles entscheiden, in Ihnen und in mir. Mir ist es leider nicht gegeben, liebes Fräulein Sabine, die Worte so schön zu setzen wie Sie.
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