Erzaehlungen
Land. Die Abende kamen früh, blieben aber warm und windstill.
Marie hatte die Gewohnheit angenommen, ihren Stuhl vom Bette des Kranken wegzurücken, so oft es anging, und sich ans offene Fenster zu setzen. Da saß sie, besonders wenn Felix schlummerte, stundenlang. Eine tiefe Abspannung war über sie gekommen, eine Unfähigkeit, sich über die Verhältnisse vollkommen klar zu werden, ja eine ausgesprochene Unlust, zu denken. Es gab ganze Stunden, wo es weder Erinnerungen, noch Zukunftsideen für sie gab. Mit offenen Augen träumte sie da vor sich hin und war schon zufrieden, wenn von der Straße her ein bißchen frische Luft über ihre Stirne geweht kam. Dann wieder, wenn ein leises Stöhnen vom Krankenbette zu ihr hindrang, schrak sie auf. Sie entdeckte, wie ihr die Gabe des Mitfühlens allmählich abhanden gekommen war. Ihr Mitleid war nervöse Überreizung und ihr Schmerz ein Gemisch von Angst und Gleichgültigkeit geworden. Sie hatte sich gewiß nichts vorzuwerfen, und wenn sie der Doktor, wie neulich einmal, in vollem Ernst einen Engel nannte, so durfte sie sich kaum beschämt fühlen. Aber sie war müde, grenzenlos müde. Nun hatte sie schon zehn oder zwölf Tage das Haus nicht verlassen. Warum nur? Warum? Sie mußte darüber nachdenken. Nun ja, fuhr es ihr wie eine Erleuchtung durch den Kopf, weil es Felix gekränkt hätte! Und sie blieb ja gern bei ihm, ja. Sie betete ihn an, nicht weniger als früher. Nur müde war sie, und das war ja endlich menschlich. Und ihre Sehnsucht nach ein paar Stunden im Freien wurde immer drängender. Sie war kindisch, sich die Erfüllung zu versagen. Auch er mußte es schließlich einsehen. Und nun wurde ihr wieder klar, wie unbegrenzt sie ihn doch lieben mußte, da sie selbst den ungewissen Schatten einer Kränkung von ihm fernhalten wollte. Sie hatte ihr Nähzeug zur Erde gleiten lassen und warf einen Blick auf das Bett, das schon ganz im Dunkel der Zimmerwand stand. Es war Dämmerung, und der Kranke war nach einem ruhigeren Tage eingeschlummert. Jetzt hätte sie sogar gehen können, ohne daß er etwas davon wissen mußte. Ach ja, da hinunter, und dort um die Ecke, und wieder einmal mitten unter Menschen und in den Stadtpark und dann auf den Ring und an der Oper vorbei, wo die elektrischen Lampen leuchteten, mitten ins Gedränge, und nach Gedränge sehnte sie sich so sehr. Aber wann würde das wiederkommen? Es kann ja nur wieder kommen, wenn Felix wieder gesund wird; und was ist ihr auch die Straße und der Park und die Menschen! was ist ihr alles Leben ohne ihn!
Sie blieb zu Hause. Sie rückte ihren Sessel an sein Bett. Sie nahm die Hand des Schlummernden und weinte stille, traurige Tränen darauf und weinte noch weiter, wie sie längst mit ihren Gedanken weitab von dem Manne gekommen war, auf dessen bleiche Hand ihre Tränen fielen.
Als Alfred am Nachmittage darauf seinen Besuch bei Felix machte, fand er ihn frischer, als die letzten Tage. »Wenn es so weiter geht«, sagte er ihm, »werd' ich dich in ein paar Tagen aufstehen lassen.« Wie alles, was zu ihm gesprochen wurde, faßte der Kranke auch das mit Mißtrauen auf und antwortete mit einem verdrossenen »Ja, ja«. Alfred aber kehrte sich zu Marie um, die beim Tische saß, und sprach: »Sie könnten eigentlich auch ein bißchen besser aussehen.«
Auch Felix, der auf diese Worte hin Marie näher betrachtete, fiel ihre besondere Blässe auf. Er war es gewohnt, die Gedanken, die ihm zuweilen über ihre aufopfernde Güte kamen, bald von sich zu scheuchen. Manchmal wollte ihm dieses Märtyrertum nicht vollkommen echt erscheinen, und er ärgerte sich über die geduldige Miene, die sie zur Schau trug. Er wünschte manchmal, sie möchte ungeduldig werden. Er spähte nach einem Moment, in dem sie sich mit einem Worte, mit einem Blick verraten würde und er ihr mit boshafter Rede ins Gesicht schleudern könnte, daß er sich keine Minute lang habe täuschen lassen, daß ihn ihre Heuchelei anwiderte und daß sie ihn in Ruhe sterben lassen sollte.
Jetzt, da Alfred von ihrem Aussehen gesprochen hatte, errötete sie ein wenig und lächelte. »Ich fühle mich ganz wohl«, sagte sie.
Alfred trat näher zu ihr hin. »Nein, das ist nicht so einfach. Ihr Felix wird wenig von seiner Genesung haben, wenn Sie dann krank werden wollen.«
»Aber ich bin wirklich ganz wohl.«
»Sagen Sie doch, gehen Sie gar nicht ein bißchen in die frische Luft?«
»Ich fühle nicht das Bedürfnis darnach.«
»Sag' doch einmal, Felix, sie rührt sich
Weitere Kostenlose Bücher