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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schnitzler
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Schimmer ins Kupee. Und draußen vor den Fenstern Nacht, Nacht! Es war, als fuhren sie durch einen langen Tunnel. Warum war sie nur so heftig aufgeschreckt? Es war doch fast ganz still, nur das gleichförmige Knarren der Räder dauerte fort. Allmählich gewöhnte sie sich an das matte Licht, und nun konnte sie wieder die Gesichtszüge des Kranken ausnehmen. Er schien ganz ruhig zu schlafen, lag unbeweglich dort. Plötzlich seufzte er tief, unheimlich, klagend. Ihr klopfte das Herz. Gewiß hatte er auch früher so gestöhnt, und das hatte sie erweckt. Aber was war das? Sie blickte näher auf ihn hin. Er schlief ja nicht. Mit weit, weit offenen Augen lag er da, ganz deutlich konnte sie's nun sehen. Sie hatte Angst vor diesen Augen, welche ins Leere, ins Weite, ins Dunkle starrten. Und wieder ein Stöhnen, noch klagender als früher. Er bewegte sich, und nun seufzte er wieder auf, aber nicht schmerzlich, eher wild. Und mit einem Male hatte er sich aufgerichtet, mit beiden Händen auf die Polster gestützt, dann schleuderte er den grauen Mantel, der ihn zudeckte, mit den Füßen auf den Boden und versuchte aufzustehen. Aber die Bewegung des Zuges ließ es nicht zu, und er sank in die Ecke zurück. Marie war aufgesprungen und wollte den grünen Schleier von der Lampe entfernen. Sie fühlte sich aber mit einem Male von seinen Armen umschlungen, und nun zog er die Bebende auf seine Knie nieder. »Marie, Marie!« sagte er mit heiserer Stimme.
    Sie wollte sich frei machen, es gelang ihr nicht. All seine Kraft schien ihm wiedergekehrt, er preßte sie heftig an sich. »Bist du bereit, Marie?« flüsterte er, seine Lippen ganz nahe an ihrem Halse. Sie verstand nicht, sie hatte nur die Empfindung einer grenzenlosen Angst. Wehrlos war sie, sie wollte schreien. »Bist du bereit?« fragte er nochmals, während er sie weniger krampfhaft festhielt, so daß ihr seine Lippen, sein Atem, seine Stimme wieder ferner waren und sie freier atmen konnte.
    »Was willst du?« fragte sie angstvoll.
    »Verstehst du mich nicht?« entgegnete er.
    »Laß mich, laß mich,« schrie sie, aber das verhallte im Brausen des weiterrollenden Zuges.
    Er achtete gar nicht darauf. Er ließ die Hände sinken, sie erhob sich von seinen Knien und setzte sich in die Ecke gegenüber.
    »Verstehst du mich nicht?« fragte er wieder.
    »Was willst du?« flüsterte sie aus ihrer Ecke heraus.
    »Eine Antwort will ich,« erwiderte er.
    Sie schwieg, sie zitterte, sie sehnte sich nach dem Tag.
    »Die Stunde rückt näher,« sagte er leiser, indem er sich vorbeugte, so daß sie deutlicher seine Worte vernehmen konnte. »Ich frage dich, ob du bereit bist?«
    »Welche Stunde?«
    »Unsere! Unsere!«
    Sie verstand ihn. Die Kehle war ihr zugeschnürt.
    »Erinnerst du dich, Marie?« fuhr er fort, und der Ton seiner Stimme nahm etwas Mildes, beinahe etwas Bittendes an. Er nahm ihre beiden Hände in die seinen. »Du hast mir ein Recht gegeben, so zu fragen,« flüsterte er weiter. »Erinnerst du dich?«
    Sie hatte nun einige Fassung wiedergewonnen, denn wenn es auch entsetzliche Worte waren, die er sprach, seine Augen hatten das Starre, seine Stimme das Drohende verloren. Ein Bittender schien er zu sein. Und wieder fragte er, beinahe weinend: »Erinnerst du dich?« Da hatte sie schon die Kraft zu erwidern, wenn auch mit bebenden Lippen: »Du bist ja ein Kind, Felix!«
    Er schien es gar nicht zu hören. In gleichmäßigen Tönen, als käme ihm Halbvergessenes mit neuer Deutlichkeit zurück, sprach er: »Nun geht es zu Ende, und wir müssen davon, Marie; unsere Zeit ist um.« Etwas Bannendes, Bestimmtes und Unentrinnbares lag in diesen Worten, so leise sie geflüstert wurden. Er hätte lieber drohen sollen, da hätte sie sich besser wehren können. Einen Augenblick, wie er noch näher an sie heranrückte, kam die ungeheure Furcht über sie, er würde auf sie stürzen und sie erwürgen. Sie dachte schon daran, an das andere Ende des Kupees zu fliehen, das Fenster zu zerschlagen, um Hilfe zu rufen. Aber in demselben Moment ließ er ihre Hände aus den seinen und lehnte sich zurück, als hätte er nichts weiter zu sagen. Da sprach sie:
    »Was für Dinge redest du denn, Felix! Jetzt, wo wir in den Süden fahren, wo du vollkommen gesund werden sollst.« Er lehnte drüben, schien in Gedanken versunken. Sie stand auf und schob rasch den grünen Schleier von der Lampe weg. Oh, wie ihr das wohltat! Licht war es nun mit einem Male, ihr Herz begann langsamer zu schlagen, und ihre Furcht

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