Erzaehlungen
seinem Platze im Orchester, die Flöte an den Lippen, und sah aufmerksam auf den Kapellmeister hin, der eben zweimal mit dem Taktstocke aufsein Pult geklopft hatte. Im ganzen Hause war es still geworden. Die Ouvertüre begann. Florian Wendelmayer blies die Flöte, wie alle Tage seit siebzehn Jahren. Er sah nicht mehr auf das Notenblatt; hundertmal hatten sie ja schon dasselbe Stück gespielt, er kannte es auswendig. Ganz mechanisch blies er seinen Part. Er hörte eigentlich nicht einmal zu. Seit siebzehn Jahren saß er da, auf demselben Stuhle, vor demselben Pulte. Drei Kollegen hatten schon neben ihm gesessen und geblasen. Einer war gestorben, zwei hatten an andern Theatern Stellungen erhalten. Jetzt saß ein junger Mann neben ihm, der nebenbei auch Privatstunden gab. Florian hatte die seinen verloren, daran dachte er während der Ouvertüre, und er überlegte, ob er wieder ein Inserat ins Wochenblatt geben sollte, um vielleicht eine neue Lektion zu bekommen ...
Und jetzt kam eine große Pause für die Flöte. Zweiundvierzig Takte mußte sie schweigen, und Florian guckte über die Orchesterrampe hinüber in das schöne, helle, gefüllte Haus. Die meisten Leute kannte er. Die Stadt war nicht groß, und es waren immer dieselben, die ins Theater kamen. Jetzt ging eine leichte Bewegung durch das Haus, und man wandte die Augen zur Hofloge, wo eben der Fürst an der Seite seines Adjutanten erschienen war. Der Fürst rückte den Sessel zurecht, und zwar ganz leise, fast unhörbar, er war immer sehr rücksichtsvoll.
Die zweiundvierzig Takte waren um, und die Flöten setzten wieder ein. Es kam der Schluß der Ouvertüre. Sehr laut, lärmend, alle Instrumente spielten mit. Endlich drei breite, von Trommelschlägen begleitete Akkorde, und der Vorhang ging in die Höhe. Ein altes Lustspiel wurde aufgeführt, dessen erste Aufführung Florian vor zehn Jahren mit angesehen hatte. Die meisten Musiker eilten ins Freie. Es war ein warmer Frühlingsabend, und da pflegten sie hinter dem Theater hin und her zu spazieren oder sich auf die grün angestrichene Bank zu setzen, die draußen stand. Sie plauderten und rauchten Zigaretten.
Florian blieb aber im Theater auf seinem Platz sitzen. Was sollte er draußen tun? Wegen der paar Minuten! Es war langweilig und überflüssig. Er legte die Flöte vor sich hin auf das Pult und sah auf die Bühne. Ach ja, das alte Stück! Es kam ihm sonderbar vor, wenn die Leute lachten. Immer wieder dieselben Spaße, und immer wieder klatschte man Beifall, lachte, unterhielt sich. Florian wollte, es wäre schon aus. Dann könnte er hinüber ins Wirtshaus gehen, sein Glas Bier trinken und dann nach Hause ins Bett. Er war so abgespannt, er fühlte sich alt.
Wie lange, wie viele Jahre saß er nun schon da; er erinnerte sich kaum, daß es je anders war. Und doch, was war er einmal für ein Mensch gewesen. Er hatte komponiert, Lieder, Symphonien; seine Lieder waren sogar in manchem Konzert gesungen worden vor fünfzehn, zwanzig Jahren. Nun gab es für ihn keine Melodien mehr! Seine Liebe für die Musik war nach und nach erstorben. Es war ihm alles nur Geräusch und Lärm, unausstehlich all das Geigen- und Flötenspiel, das die Leute entzückte. Aber es mußte weiter geflötet werden, er lebte davon. Ach, wie liebte er früher seine Kunst! Er hatte seine Schulen nicht beendet, hatte nichts studiert. Stundenlang war er durch den Wald gewandert, Melodien rauschten in ihm, er hörte nur zu. Nur wenig schrieb er auf. Es war nicht möglich, all diesen Überfluß festzuhalten. Das Wehen der Luft, das Säuseln der Bäume, seine knisternden Schritte wurden zu Musik.
All das war lange vorüber, auch der Schmerz, daß es entschwunden war, lang vorüber. Nun spielte er seine Flöte und tat seine Pflicht, ruhig und dürftig floß sein Leben hin.
Das ganze Haus lachte. Auch Florian lächelte – er lächelte zum hundertsten Mal über dieselben dummen Spaße. Der Aktschluß war nahe. Die niedere Orchestertür öffnete sich, und die Musiker erschienen wieder. Alle bückten sich, nicht an den Türpfosten anzustoßen, außer dem kleinen Kontrabassisten, der hocherhobenen Hauptes seinem Platze zuschritt. Auch der Kapellmeister trat ein, setzte sich auf seinen erhöhten Stuhl und nahm den Taktstock zur Hand, um sofort beim Fallen des Vorhangs das Zeichen zum Beginn der Musik zu geben. Der Vorhang senkte sich unter lebhaftem Applaus. Und schon fiel das Orchester ein; das Lachen und Plaudern im Zuschauerraum mischte sich drein.
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