Erzählungen
der Greueltat geschrieben; dem Autor standen keine anderen Auskunftsmittel als die, welche die Zeitungen lieferten, zu Gebot. So mußte ihm notwendig vieles entgehen, was ihm von Nutzen gewesen wäre, wenn er die Lokalitäten persönlich hätte besichtigen können. Es dürfte jedoch nicht unangemessen erscheinen, hier zu erwähnen, daß die Geständnisse zweier Personen (die in der Erzählung vorkommende Madame Deluc ist eine von ihnen) lange nach dieser Veröffentlichung nicht nur die Art der allgemeinen Schlußfolgerung des Autors durchaus bestätigten, sondern alle Einzelheiten, hypothetischen Einzelheiten, alle Annahmen und Voraussetzungen anerkannten, mittels derer er seinen Plan verfolgte und zu seinem Endergebnis gelangte.
Als ich vor etwa Jahresfrist in meiner Erzählung: Der Mord in der Rue Morgue , einige auffallende, merkwürdige Geisteszüge meines Freundes August Dupin zu schildern versuchte, hätte ich nicht gedacht, daß ich jemals wieder auf diesen Gegenstand zurückkommen würde. Ich wollte damals eine Charakterschilderung geben und erreichte meine Absicht vollkommen, da mir eine Reihe sehr seltsamer Begebenheiten Belege für Dupins Idiosynkrasie geliefert hatten. Ich hätte noch mehr Beispiele anführen und doch den Beweis nicht schlagender liefern können. Neuere Ereignisse haben mich aber durch ihre überraschende Entwicklung bestimmt, einige weitere Einzelheiten zu erwähnen, die vielleicht wie ein erzwungenes Geständnis aussehen werden. Es wäre jedoch sonderbar, wenn ich nach dem, was ich kürzlich hörte, Stillschweigen über das bewahren sollte, was ich vor langer Zeit schon vernahm.
Als die Tragödie des Todes der Frau L’Espanaye und ihrer Tochter zum Schluß gekommen war, widmete ihr Dupin auch nicht einen Gedanken mehr und versank wieder in seine gewohnten düsteren Träumereien. Und da auch ich schon immer sehr zu abstrakten Grübeleien neigte, teilte ich seine Stimmung bald. Wir bewohnten unsere Zimmer im Faubourg St. Germain weiter, schlugen alle Gedanken an die Zukunft in den Wind, schlummerten ruhig auf der Gegenwart, und ein Netz von Träumereien umspann die graue Alltagswelt, die uns umgab.
Doch blieben diese Träume nicht ganz ungestört. Man kann sich leicht denken, daß die Rolle, die mein Freund in der Tragödie der Rue Morgue spielte, ihren Eindruck auf die Phantasie der Pariser Polizei nicht verfehlt hatte. All ihren Mitgliedern ist Dupins Name bekannt und geläufig. Da er den einfachen Charakter der Induktionen, durch die er das Geheimnis enthüllte, außer mir niemandem, selbst nicht dem Präfekten, mitgeteilt hatte, ist es nicht erstaunlich, daß man die ganze Sache fast als ein Wunder ansah und daß man seine analytischen Fähigkeiten für reine Intuition hielt. Seine Offenheit würde ohne Zweifel veranlaßt haben, all diese Gerüchte über ihn zu dementieren, hätte ihn nicht seine Indolenz abgehalten, noch irgend etwas in einer Sache zu tun, die für ihn von keinem Interesse mehr war. So geschah es, daß er für die Augen der Polizei eine Art Leitstern wurde, und bei zahlreichen Gelegenheiten suchte sich die Polizeipräfektur seiner Dienste zu versichern. Eine der merkwürdigsten war die Ermordung jenes jungen Mädchens namens Marie Rogêt.
Dieser Mord ereignete sich etwa zwei Jahre nach den Greueltaten in der Rue Morgue. Marie, deren Tauf- und Familienname jedermann an eine unglückliche junge New Yorker Zigarrenverkäuferin erinnern wird, war die einzige Tochter der Witwe Estelle Rogêt. Als kleines Kind hatte sie ihren Vater verloren und seit seinem Tode bis etwa achtzehn Monate vor ihrer Ermordung, welche den Gegenstand unserer Erzählung bilden, mit ihrer Mutter zusammen in der Rue Pavée Sainte Andrée gewohnt. Frau Rogêt hielt dort mit Mariens Hilfe eine Pension. So verfloß ihr Leben ziemlich gleichförmig, bis die große, außerordentliche Schönheit des nun zweiundzwanzigjährigen Mädchens die Aufmerksamkeit eines Parfümhändlers auf sich zog, der einen der im Erdgeschoß gelegenen Kaufläden im Palais Royal innehatte und dessen Kundschaft hauptsächlich aus den verwegenen Abenteurern bestand, die in jener Gegend herum wohnen.
Monsieur LeBlanc war sich sehr wohl der Vorteile bewußt, welche die Anwesenheit der schönen Marie seinem Geschäfte bringen mußte; das Mädchen ging auf seine ziemlich glänzenden Vorschläge bereitwilligst ein, während die Mutter erst nach längerem Zögern ihre Zustimmung gab.
Die Erwartungen des Kaufmanns gingen
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