Erzählungen
sich unter dem Einfluß des Gases auszudehnen.
Nachdem wir uns also mit allen physikalischen Lehren bekannt gemacht haben, wird es uns leicht sein, die Behauptungen der Etoile auf ihre Richtigkeit zu prüfen. ›Die Erfahrung lehrt uns‹, sagt das Blatt, ›daß Ertrunkene oder Körper, die nach erfolgtem gewaltsamen Tode sofort ins Wasser geworfen wurden, sechs bis zehn Tage brauchen, ehe die Verwesung so weit vorgeschritten ist, daß sie wieder an die Oberfläche kommen. Selbst wenn eine Kanone über einen Leichnam hinweg abgefeuert wird, der fünf bis sechs Tage im Wasser gelegen hat, und dieser wieder in die Höhe kommt, sinkt er wieder, sobald er sich selbst überlassen wird.‹
Diese ganze Stelle muß Ihnen jetzt als ein schlechtes Gewebe von lauter Zusammenhanglosigkeiten erscheinen. Die Erfahrung beweist nicht , daß alle Körper bis zehn Tage brauchen , ehe die Verwesung sie wieder an die Oberfläche bringt. Im Gegenteil beweisen Erfahrung und Wissenschaft, daß die Zeit, die sie zum Heraufsteigen nötig haben, unbestimmt ist. Ist ein Körper infolge der Abfeuerung einer Kanone an die Oberfläche gekommen, so wird er auch nicht wieder sinken, ›sobald er sich selbst überlassen wird‹, bis die Verwesung so weit vorgeschritten ist, daß das erzeugte Gas entweichen kann.
Ich möchte Sie auch auf den Unterschied hinweisen, den das Blatt zwischen ›Ertrunkenen‹ und ›Körpern, die nach erfolgtem gewaltsamen Tode sofort ins Wasser geworfen wurden‹, macht. Obgleich der Verfasser des Artikels hier eine Unterscheidung trifft, spricht er doch von beiden Arten der Toten als von einer Kategorie. Ich habe eben gezeigt, wie es kommt, daß der Körper eines Ertrinkenden spezifisch schwerer wird als die Wassermenge, die er verdrängt, und daß er gar nicht untersinken würde, wenn er nicht im Kampf um sein Leben die Arme emporstrecken und beim Atmen unter der Oberfläche seine Lungen mit Wasser füllen würde. Bei einem nach erfolgtem gewaltsamen Tode ins Wasser geworfenen Körper kommen diese beiden Umstände jedoch nicht in Frage. Somit würde also in letzterem Falle der Körper in der Regel gar nicht sinken – eine Tatsache, welche der Etoile offenbar ganz unbekannt ist. Erst wenn die Verwesung so weit vorgeschritten wäre, daß sich das Fleisch von den Knochen löste, erst dann würde der Leichnam endgültig versinken.
Was ist uns nun also die Behauptung der Etoile , der gefundene Körper sei nicht der Leichnam der Marie Rogêt, weil man ihn schon drei Tage nach dem Verschwinden des Mädchens oben auf dem Wasser gefunden habe? Wir wissen jetzt, daß Marie Rogêt, falls sie ertrank, möglicherweise gar nicht untersank – denn sie war ja eine Frau –, oder, wenn sie sank, in vierundzwanzig Stunden, ja, noch früher, wieder an die Oberfläche kommen konnte. Es vermutet jedoch niemand, daß sie ertrunken sei, und wenn wir annehmen, daß ihr Tod eintrat, bevor sie ins Wasser geworfen wurde, so konnte sie zu jeder beliebigen Zeit nach ihrem Tode im Wasser schwimmend gefunden werden.
›Aber‹, meint die Etoile , ›wäre der Leichnam in seinem verstümmelten Zustande bis Dienstag nacht am Ufer verborgen gehalten worden, so hätte man dort sicherlich eine Spur von den Mördern finden müssen.‹ Es ist schwer, hier auf den ersten Blick zu sehen, worauf der Verfasser des Artikels eigentlich hinaus will. Wahrscheinlich will er von vornherein einem Einwand begegnen, der seiner Theorie einen Stoß versetzen würde, dem Einwand nämlich, daß der Leichnam zwei Tage am Ufer geblieben und rasch in Verwesung übergegangen sei, rascher, als wenn er sich im Wasser befunden hätte. Der Verfasser meint offenbar, der Leichnam hätte in diesem Falle schon am Mittwoch wieder an die Oberfläche kommen können, aber eben nur in diesem Falle. Er beeilt sich infolgedessen, zu beweisen, daß der Leichnam nicht am Ufer geblieben ist; denn in diesem Falle hätte man am Ufer ›eine Spur von den Mördern finden müssen‹. Über eine solche Logik kann man höchstens lächeln. Sie werden ebensowenig wie ich einzusehen vermögen, daß das bloße Verstecken des Leichnams am Ufer die Spuren der Mörder vermehrt hätte.
›Und weiterhin‹, fährt unser Blatt fort, ›ist es höchst unwahrscheinlich, daß die Verbrecher, die einen so schauderhaften Mord verübten, den Leichnam nicht durch ein Gewicht zum Sinken gebracht hätten, da doch dieser wichtigen Vorsichtsmaßregel nichts im Wege stand.‹
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