Erzählungen
den Mord begangen, durch das äußerlich verwandte Ereignis, von welchem mein dritter Auszug handelt, hervorgerufen worden. Ganz Paris ist in Aufregung, weil man Marie Rogêt, die schöne und bekannte Marie Rogêt, ermordet aufgefunden hat. Der Leichnam trägt die Spuren einer Gewalttat und schwimmt auf dem Flusse. Nun wird bekannt, daß genau oder wenigstens ungefähr um dieselbe Zeit, in der das Mädchen wahrscheinlich ermordet wurde, von einer Rotte roher Gesellen an einer zweiten jungen Frauensperson ein Verbrechen verübt wurde, das seiner Natur nach dem Attentat an Marie Rogêt durchaus ähnlich, wenn auch nicht ganz so gräßlich ist. Ist es nun verwunderlich, daß diese eine bekannt gewordene Gewalttat des Publikums Urteil über die unaufgeklärt gebliebene beeinflußt?
Das öffentliche Urteil wartete nur auf einen Hinweis, und diesen schien das bekannt gewordene zweite Verbrechen gerade zur rechten Zeit zu geben. Auch Mariens Leichnam wurde auf dem Flusse schwimmend gefunden. Ein Zusammenhang bestand da – anscheinend wenigstens – so offenbar, daß es zu verwundern gewesen wäre, wenn das Publikum nicht zu dem Glauben gekommen wäre, er sei wirklich vorhanden.
In Wahrheit aber ist der Umstand, daß die eine Freveltat in der bekannt gewordenen Art und Weise verübt wurde, ein sicherer Beweis dafür, daß die andere nicht in derselben Weise geschah. Man mußte es fast ein Wunder nennen, wenn eine Rotte von Buben an einem gegebenen Orte eine unerhörte Freveltat verübt hätte, während zu gleicher Zeit, an einem ähnlichen Orte, in derselben Stadt, unter gleichen Umständen, eine zweite Rotte mit ganz gleichen Mitteln einen ganz ähnlichen Frevel begangen hat! Und doch verlangt die in solcher Weise künstlich hervorgebrachte öffentliche Meinung von uns, daß wir an ein so wunderbares Zusammentreffen glauben sollen.
Ehe wir weitergehen, wollen wir den mutmaßlichen Schauplatz des Verbrechens in dem Dickicht an der Barrière du Roule näher betrachten. Dies außerordentlich dichte Wäldchen liegt in allernächster Nähe einer Landstraße. In demselben fand man drei oder vier große Steine, die eine Art Sitz mit Rücklehne und Schemel bildeten.
Auf dem obersten Stein fand man einen weißen Unterrock, auf dem zweiten ein seidenes Schultertuch. Weiter entdeckte man einen Sonnenschirm, Handschuhe und ein Taschentuch, in welches der Name ›Marie Rogêt‹ eingestickt war. An den umstellenden Sträuchern hingen Fetzen von einem Kleid. Der Boden war zusammengetreten, die Sträucher geknickt, und überall sah man die Spuren eines heftigen Kampfes.
Trotz der Freudenrufe, mit denen die Presse die Entdeckung des Dickichts begrüßte, und trotz der Einstimmigkeit, mit der das Publikum glaubte, den wahren Schauplatz des Verbrechens entdeckt zu haben, kann nicht geleugnet werden, daß noch ein triftiger Grund zu zweifeln vorliegt. Daß das Wäldchen der Schauplatz gewesen ist, kann ich glauben oder nicht, jedenfalls, sage ich, liegen Gründe vor, noch zu zweifeln. Wäre der wirkliche Schauplatz wie der Commercial vermutete, in der Nähe der Rue Pavée Sainte Andrée zu suchen, so würden die Verbrecher – vorausgesetzt, daß sie sich noch in Paris aufhalten – natürlich von Schreck darüber erfüllt worden sein, daß die öffentliche Aufmerksamkeit scharfsinnig auf die richtige Spur geleitet worden ist, und gewisse Leute hätten sofort die Notwendigkeit eingesehen, irgendeinen Versuch zu machen, die Aufmerksamkeit von dieser Bahn wieder abzulenken. Und so würde man, da das Dikkicht an der Barrière du Roule nun doch einmal etwas Verdächtiges an sich hatte, natürlicherweise auf den Gedanken gekommen sein, die Gegenstände an den Ort zu legen, an welchem sie später dann wirklich gefunden wurden.
Es gibt trotz allem, was der Le Soleil auch sagen mag, keine stichhaltigen Beweise für die Annahme, daß die Gegenstände länger als ein paar Tage dort gelegen haben; dagegen ist es nicht anzunehmen, daß sie, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, die zwanzig Tage zwischen dem verhängnisvollen Sonntag und dem Nachmittag, an dem sie von den Knaben gefunden wurden, dort hätten liegen können, ohne während dieser Zeit von mehr als einer Person bemerkt zu werden. ›Sie waren vom Regen ganz verschimmelt‹, sagt der Le Soleil , indem er der Ansicht der übrigen Blätter beipflichtet, ›und klebten vielfach zusammen. Über einige der Gegenstände war schon Gras gewachsen. Die Seide des Sonnenschirmes war stark, und doch
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