Erzählungen
war der obere Teil, der am dichtesten zusammengefaltet war, durch und durch verschimmelt und verfault, so daß er, als man den Schirm öffnete, zerriß.‹
Es liegt auf der Hand, daß man sich bezüglich der Wahrheit der Behauptung: ›Über einige der Gegenstände war schon Gras gewachsen‹ auf die Aussagen und das Gedächtnis der beiden kleinen Knaben verlassen muß, denn sie hoben die Gegenstände auf und brachten sie nach Hause, ehe eine dritte Person sie am Fundorte besichtigte.
Gras wächst jedoch besonders in so warmem und feuchtem Wetter, wie es zur Zeit des Mordes herrschte, einen, ja, auch zwei und drei Zoll an einem einzigen Tag. Ein Sonnenschirm, der auf einem Boden mit neuem Rasen liegt, kann innerhalb einer Woche durch das neuwachsende Gras den Blicken ganz entzogen werden. Und was den Schimmel anbetrifft (von welchem der Herausgeber der Le Soleil so hartnäckig spricht, daß er in seinem angeführten Artikel das Wort nicht weniger als dreimal gebraucht), da muß ich fragen, ob denn der betreffende Literat so vollständig im unklaren über das Wesen einer Verschimmelung ist? Muß ich ihm erst sagen, daß sie von einer jener zahlreichen Klassen von Schwämmen herrührt, deren bekannte Eigentümlichkeit es ist, daß sie in vierundzwanzig Stunden entstehen und wieder absterben?
So sehen wir also mit einem Male, daß alles das, was man zur Unterstützung der Annahme beigebracht hat, ›die Gegenstände lägen schon wenigstens drei oder vier Wochen in dem Dickicht‹, nur eine Absurdität ist, die nichts für die ganze Behauptung beweist. Andererseits ist es schwer, zu glauben, daß die Gegenstände in dem erwähnten Dickicht unbemerkt länger als von einem Sonntag zum andere hätten liegen können.
Alle Leute, die in der Umgegend von Paris bekannt sind, wissen, wie ungemein schwer es ist, dort eine wirklich einsame Stelle zu finden, wenn man nicht weit über die Vorstädte hinausgehen will. Es gibt in den Wäldchen und Gebüschen keine Stellen, die unbekannt sind oder auch nur selten besucht werden. Es möge nur einmal ein Naturfreund, den seine Pflicht vielleicht in der staubigen, heißen Großstadt gefesselt hält, den Versuch machen, selbst an einem Werktag seinen Durst nach Einsamkeit in der unmittelbaren, anmutigen Umgebung der Stadt zu stillen. Bei jedem zweiten Schritt wird sein Entzücken über die Natur durch den Anblick irgendeines rohen Burschen oder eines Haufens betrunkener Taugenichtse gestört werden. Er will unter dem dichtesten Blätterdach Schweigen und Einsamkeit suchen – vergebens! Er findet gerade hier die Schlupfwinkel für allerlei lichtscheues Gesindel und verläßt traurig die entweihten Tempel. Angewidert flieht er in das verdorbene Paris zurück, das er weniger haßt, weil es ein weniger unnatürlicher Sammelplatz der Verderbnis ist.
Wenn nun die Umgebung der Stadt schon an Werktagen so sehr belebt ist – wieviel mehr erst an Sonntagen. Da suchen alle Lumpen und Bösewichter der Stadt, frei von jeder Arbeit und der gewohnten Gelegenheit beraubt, ein Verbrechen zu begehen, die Umgegend auf: nicht aus Liebe zur Natur, für die diese Menschen nicht das geringste Empfinden haben, sondern nur, um dem Zwang und den Schranken, welche die Gesellschaft ihnen auferlegt, zu entfliehen. Diese Buben suchen nicht frische Luft und den Anblick grüner Bäume, sondern nur die Ungebundenheit des Landes, um ihren wüsten Launen freien Lauf zu lassen. In den Gasthäusern an der Landstraße oder unter dem dichten Laubwerk der Bäume überlassen sie sich, froh, nur in Gesellschaft von Spießgesellen zu sein, einer maßlosen, unechten Lustigkeit, die falschem Freiheitsgefühl und der Schnapsflasche entspringt. Ich behaupte hier nicht mehr, als was jedem kühlen Beobachter klar sein dürfte, wenn ich wiederhole, daß es als ein Wunder angesehen werden müßte, wenn die fraglichen Fundgegenstände in einem Dickicht in der unmittelbaren Nähe von Paris länger als von einem Sonntag zum anderen hätten liegen können, ohne entdeckt zu werden.
Verschiedene andere Gründe sprechen dafür, daß die betreffenden Gegenstände in das Dickicht gelegt worden sind, um die öffentliche Aufmerksamkeit von dem wirklichen Schauplatz des Verbrechens abzulenken. Gestatten Sie mir vorerst, Sie auf das Datum der Entdeckung hinzuweisen. Vergleichen Sie dasselbe mit dem Datum des fünften Zeitungsauszuges, den ich Ihnen vorgelegt habe.
Sie werden finden, daß die Entdeckung fast unmittelbar auf die Mitteilungen
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