Erzählungen
folgte, die der Abendzeitung gemacht wurden. Alle diese Mitteilungen, obgleich ganz verschieden und anscheinend verschiedenartigen Quellen entstammend, zielten auf eins hin – nämlich darauf, daß eine Rotte von Verbrechern den Mord begangen habe und daß der Schauplatz des Mords in der Nähe der Barrière du Roule zu suchen sei. Nun kann es uns nicht mehr in Erstaunen setzen, daß die kleinen Knaben nach solchen Mitteilungen, und nachdem man die öffentliche Aufmerksamkeit auf so bestimmte Punkte gelenkt hatte, die Gegenstände in dem Dickicht fanden; aber man muß annehmen, daß die Kinder diese nur deshalb nicht eher fanden, weil sie nicht früher dorthin gebracht worden waren – weil sie zu einer späteren Zeit, die mit dem Datum der Mitteilungen übereinstimmt, von dem schuldigen Urheber dieser Mitteilungen selbst dahingelegt worden sind.
Das Dickicht war kein gewöhnliches – es hatte verschiedene auffallende Eigentümlichkeiten. Erstens war es, wie erwähnt, ganz außerordentlich dicht; dann fand man im Innern drei sonderbare Steine, die einen Sitz mit Rücklehne und Fußschemel bildeten . Und dieses von der Natur so merkwürdig ausgezeichnete Dickicht befand sich, nur ein paar Meter entfernt, in der unmittelbaren Nähe des Hauses der Frau Deluc, deren Knaben die Gewohnheit hatten, alle Gebüsche in der Umgegend zu durchsuchen, da sie mit Vorliebe Sassafrasrinde sammelten. Wäre es nun unbesonnen, zu wetten, daß kein Tag vorüberging, ohne daß wenigstens einer der Knaben in die schattige Halle eingedrungen und sich auf den natürlichen Thron gesetzt hätte?
Wer zögern würde, diese Wette einzugehen, ist entweder selbst nie ein Knabe gewesen oder hat das Wesen eines Knaben vergessen. Ich wiederhole nochmals: es ist kaum zu begreifen, wie die Gegenstände länger als ein oder zwei Tage in dem Dickicht hätten bleiben können, ohne entdeckt zu werden. Man hat also, trotz der dogmatischen Unwissenheit des Le Soleil , triftige Gründe, anzunehmen, daß sie erst kurz vor ihrer Auffindung an den betreffenden Ort gebracht wurden.
Doch habe ich noch andere, stärkere Beweise, die diese meine Behauptung begründen. Zuerst muß ich Sie darauf aufmerksam machen, in welch gekünstelter Anordnung die Gegenstände umherlagen. Auf dem oberen Stein lag ein weißer Unterrock; auf dem zweiten ein seidenes Schultertuch, und auf dem Boden, wie hingefallen, ein Sonnenschirm, Handschuhe und ein Taschentuch, in welches der Name Marie Rogêt eingestickt war. Eine solche Anordnung konnte natürlicherweise nur ein sehr wenig scharfsinniger Kopf treffen, der sich bemühte, die fraglichen Sachen in möglichst natürlicher Lage umherzulegen. In Wirklichkeit jedoch ist eine solche Anordnung durchaus nicht natürlich. Sie wäre es weit eher, wenn die Sachen alle auf dem Boden gelegen hätten und zertreten gewesen wären. In dem engen Raum des Dickichts dürfte es wohl kaum möglich gewesen sein, daß der Unterrock und das Schultertuch auf den Steinen liegenblieben, wenn dort ein Kampf von mehreren Personen stattgefunden hätte. ›Offenbar‹, sagen die Zeitungen aber, ›fand ein Kampf statt – der Boden war zusammengetreten, die Sträucher vielfach geknickt‹ –, und doch findet man den Unterrock so säuberlich aufgehoben, als habe man ihn in einen Schrank gelegt. Die Kleiderfetzen, die an den Büschen umherhingen, waren ungefähr drei Zoll breit und sechs Zoll lang. Eines der Stücke hatte den Saum des Rockes gebildet und war ausgebessert gewesen. Die Fetzen sahen aus ›wie mit Gewalt losgerissene Streifen‹.
Hier spricht der Le Soleil , ohne es selbst zu bemerken, einen äußerst verdachterregenden Satz aus. Die Fetzen sehen nach seiner Beschreibung allerdings wie mit Gewalt losgerissene Streifen aus, aber wie Streifen, die absichtlich und mit der Hand losgerissen worden sind.
Es kommt höchst selten vor, daß ein Dorn aus einem Kleide wie das beschriebene ein ganzes Stück ausreißt. Es liegt in der Beschaffenheit solcher Gewebe, daß ein Dom oder ein Nagel sie rechtwinklig zerreißt, das heißt, sie in zwei längliche Risse teilt, die an der Stelle, an welcher der fragliche Gegenstand eingedrungen ist, in einem rechten Winkel zusammenlaufen. Aber es ist kaum denkbar, daß auf diese Weise ein ganzes Stück ausgerissen wird. Mir ist kein solcher Fall bekannt, und Ihnen wohl ebensowenig!
Um aus solchen Geweben ein Stück auszureißen, sind fast immer zwei verschiedene, in verschiedener Richtung wirkende Kräfte
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