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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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Nebenzimmer. Ich hätte sie gern selbst dorthin. begleitet, aber ich sah ein, daß es unter den Umständen, unter denen ich in diese Gesellschaft eingeführt worden war, besser für mich sei, mich möglichst unbemerkt zu halten. So wurde ich zwar des Vergnügens beraubt, sie singen zu sehen, jedoch nicht, sie singen zu hören.
    Der Eindruck, den sie auf die Gesellschaft machte, war erstaunlich.
    Ich wüßte nicht, wie ich ihn auch nur annähernd beschreiben könnte. Ich selbst war ganz hingerissen. Das rührte vielleicht zum guten Teil von der großen Liebe her, in der ich im Augenblick nur noch lebte. Doch bin ich überzeugt, die größte Künstlerin hätte diese Arie oder dies Rezitativ nicht mit leidenschaftlicherem Ausdruck singen können. Die Art, wie sie die Arie aus Othello vortrug, der Ton, mit dem sie die Worte Capuletts: Sul mi sasso wiedergab, klingen mir noch heute in der Seele. Ihre tiefen Töne waren einfach wunderbar. Die Stimme umfaßte drei ganze Oktaven, reichte vom tiefen D des Alt bis zum hohen D des Sopran und war so volltönend, daß sie für den großen Saal des San Carlos ausgereicht hätte, dabei von vollendeter Reinheit und Biegsamkeit und von einen Schmelz, der selbst bei den schwierigsten Kadenzen und Koloraturen den Hörer zur höchsten Begeisterung hinriß.
    In dem Finale aus der ›Somnambule‹ wußte sie bei der Stelle:
    Ah! non guinge uman pensiero Al contento ond’ io son piena einen ganz besonderen Effekt zu erzielen.
    Hier änderte sie den Originaltonsatz Bellinis und ließ, die Malibran nachahmend, ihre Stimme erst zum mittleren G hinabsteigen, um dann zwei ganze Oktaven zu überspringen und das viergestrichene hohe G anzuschlagen.
    Nach diesen Wundern von Gesangskunst stand sie vom Klavier auf und kehrte zu ihrem Platz an meiner Seite zurück. Ich sprach natürlich in den Tönen tiefster Bewunderung mein Entzücken aus.
    Ich war eigentlich außerordentlich überrascht, denn ihre schwache, fast zitternde Stimme beim Sprechen hatte mich solche ungewöhnliche Kunstleistungen nicht erwarten lassen. Ich verhehlte ihr nichts, denn ich fühlte, ich hatte das Recht, ihrer entgegenkommenden Zutraulichkeit nichts zu verbergen. Ermutigt durch ihre eigene Aufrichtigkeit in bezug auf ihr Alter, sprach ich dann mit vollkommener Offenheit von meinen verschiedenen kleinen Schwächen und Fehlern, nicht allein von den moralischen, auch von den physischen, von welchen zu reden viel mehr Selbstüberwindung kostet und was somit ein um so sicherer Beweis der Liebe ist. Ich erzählte von den jugendlichen Torheiten der Studentenzeit, von meinen Ausschweifungen, Schulden und Liebeleien. Ja, ich erwähnte sogar einen gewissen hektischen Husten, der mich zuweilen befällt, einen chronischen Rheumatismus, der mich zuweilen als Mahnung an ein erbliches Gichtleiden zwickt, und die unangenehme, lästige, obwohl bisher sorgfältig verhehlte Schwäche meiner Augen.
    »Was den letzten Punkt anbetrifft, so war es sicher eine Unklugheit Ihrerseits, ihn zu erwähnen; denn ohne Ihr Geständnis würde ich es nie geglaubt haben, wenn jemand Sie dieser Schwäche beschuldigt hätte. Übrigens«, setzte sie hinzu, »entsinnen Sie sich vielleicht noch dieses kleinen Augenglases, das ich da um den Hals hängen habe, mein teurer Freund?«
    Trotz des Halbdunkels bemerkte ich, wie sie bei dieser Frage tief errötete, während ihre Finger nervös mit dem zierlichen Gegenstand spielten, der mich schon damals im Opernhaus in solche Verwirrung versetzt hatte.
    »Ach ja, natürlich kenne ich es noch«, rief ich lebhaft und preßte feurig die zarte Hand, die mir das Augenglas zur Besichtigung reichte. Es war ein entzückendes, kunstvoll zusammengesetztes Spielzeug in Goldfiligran, reich verziert mit kostbaren Juwelen, die selbst in der schwachen Beleuchtung wunderbar blitzten.
    »Nun wohl, mein Freund«, sagte sie mit einer gewissen Eindringlichkeit, die mich etwas befremdete, »Sie haben von mir eine Gunst verlangt, die Sie selbst als unschätzbar bezeichneten. Sie baten mich um die Einwilligung, morgen schon die Ihre zu werden. Wenn ich nun Ihrem Verlangen nachgebe – und ich muß gestehen, auch gleichzeitig dem innersten Drang meines Herzens –, dürfte ich nicht ein kleines Gegengeschenk von Ihnen erbitten?«
    »Nennen Sie es!« rief ich, so voll feurigem Eifer, daß ich beinahe die Aufmerksamkeit der versammelten Gäste auf mich gezogen hätte, die allein mich davon zurückhielten, dem geliebten Wesen zu Füßen zu sinken.

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