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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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sich immer mehr vertieften und uns in Dunkelheit hüllten – und dann stieß sie mit einem einzigen leisen Ruck ihrer süßen Finger dies ganze künstliche Kartenhaus von Argumenten wieder um.
    Ich antwortete, so gut ich konnte – wie es nur ein treuer, feuriger Liebhaber tun kann. Ich sprach lange und ausführlich von meiner innigen Zuneigung, von meiner Leidenschaft – von ihrer berückenden Schönheit und meiner überschwenglichen Bewunderung. Kurz, ich betonte mit überzeugendem Nachdruck die vielen Gefahren, welche jeder Liebe drohen, und bewies ihr logisch, es sei eine Gefahr, die Verlobungszeit unnötig zu verlängern.
    Dieses letzte Argument schien denn auch ihren festen Entschluß ins Wanken zu bringen. Sie gab nach, doch mit dem Bemerken, es existiere noch ein Hindernis, das ich nicht in Betracht gezogen hätte.
    Es sei dies ein delikater Punkt; besonders eine Frau könne ihn nicht gut erörtern; wenn sie dennoch darüber spreche, so koste sie das eine große Überwindung, aber mir zuliebe sei sie zu jedem Opfer bereit.
    Ob ich auch an den Altersunterschied zwischen uns dächte? Daß der Mann ein paar Jahre, ja selbst fünfzehn bis zwanzig Jahre älter sei als die Frau, sei ja noch nie als unpassend angesehen worden, aber sie selbst sei immer der Ansicht gewesen, daß die Frau nicht älter als der Mann sein dürfe. Das sei unnatürlich und nur allzuleicht der Grund zu späterem Unglück. Sie habe erst heute gesehen, daß ich nicht älter als zweiundzwanzig Jahre sei, und ich habe vielleicht noch nicht bemerkt, daß ihr Alter das meinige bei weitem übersteige.
    Sie sagte dies mit einem so wunderbaren Zartgefühl und solch zurückhaltender Würde, daß ich in ein Entzücken geriet, welches mich erst recht in meinem Vorhaben bestärkte.
    »Aber süßeste Eugénie«, rief ich, »welch Bedenken wäre das für uns! Und wenn du auch älter bist als ich, was tut das? Die Sitten der Welt sind doch nur Torheiten. Für zwei Menschen, die sich so sehr lieben wie wir, ist der Unterschied eines Jahres gleich dem einer Stunde. Du sagtest ganz richtig, ich sei zweiundzwanzig Jahre alt, du hättest ebensogut dreiundzwanzig sagen können. Nun bist du, teuerste Eugénie, doch nicht älter als – nicht älter als – als – «
    Hier stockte ich einen Augenblick in der Erwartung, daß Frau Lalande mich mit der Angabe ihres wirklichen Alters unterbrechen würde. Aber eine Französin ist selten ganz offen, sie weiß immer noch eine kleine ausweichende Antwort, eine unbestimmte Erwiderung. In diesem Augenblick ließ Eugénie, die etwas in ihrem Busen gesucht hatte, ein kleines Miniaturbild fallen, das ich gleich aufhob und ihr hinreichte.
    »Behalte es«, sagte sie mit ihrem bezauberndsten Lächeln. »Behalte es um Eugénies willen, die es allerdings ein wenig geschmeichelt darstellt. Außerdem kannst du auf der Rückseite die Antwort finden, die du zu wünschen scheinst. Aber jetzt wird es zu dunkel, du kannst es morgen früh betrachten. Inzwischen begleite mich nach Hause. Meine Bekannten sind zu einer kleinen musikalischen Unterhaltung versammelt. Du wirst auch guten Gesang zu hören bekommen. Wir Franzosen sind nicht so kleinlich wie ihr Amerikaner; es wird mir nicht schwer fallen, dich als einen alten Bekannten einzuschmuggeln.«
    Mit diesen Worten ergriff sie meinen Arm, und ich begleitete sie nach Hause. Ihre Wohnung war sehr vornehm und mit exquisitem Geschmack eingerichtet. Die zwei nebeneinanderliegenden Räume, in welchen sich die Gesellschaft hauptsächlich aufhielt, waren nur schwach erleuchtet, so daß das ganze Interieur in ein angenehmes Dämmerlicht gehüllt war. Dies ist eine schöne Sitte, die den Gästen erlaubt, je nach Belieben im Licht oder im Halbdunkel sich aufzuhalten, und welche auch von unsern überseeischen Freunden schnell nachgeahmt wurde.
    Der Abend, den ich so verbrachte, war unzweifelhaft der herrlichste meines Lebens. Madame Lalande hatte die musikalischen Leistungen ihrer Freunde nicht überschätzt; ich habe nie wieder so ausgezeichnete Stimmen in einem Privatkreis gehört. Die Instrumentalmusik wurde von außerordentlich begabten Künstlern ausgeführt.
    Verschiedene Damen erfreuten uns mit durchweg sehr schönen Gesangsvorträgen. Dann bat man allgemein Madame Lalande, und sie erhob sich auch gleich, ohne sich lange bitten zu lassen, von der Chaiselongue, auf der sie mit mir Platz genommen hatte, und ging mit ein paar Herren und ihrer Freundin aus dem Opernhaus an das Klavier im

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