Erzählungen
durchlohen scheint. Das Tor ist in die Mauer eingelassen, die hier den Fluß im rechten Winkel zu durchschneiden scheint. Ein paar Augenblicke später jedoch sieht man, daß der Hauptteil des Wassers in sanfter, weit geschweifter Biegung zur Linken, wie früher, die Mauer entlang weiter fließt, während sich ein immerhin wasserreicher Arm vom Hauptstrom abzweigt und mit leichtem Schäumen unter dem Tore verschwindet. Der Kahn gerät in diesen kleineren Strom und nähert sich dem Tore, dessen schwere Flügel sich langsam und majestätisch öffnen. Das Boot gleitet durch sie hindurch und eilt schnell in ein weites Amphitheater hinunter, das vollkommen von purpurnen Bergen eingeschlossen ist, deren Fuß ringsumher ein glänzender Fluß bespült. Und nun eröffnet sich unseren Blicken das ganze Paradies von Arnheim. Eine hinreißende Melodie klingt in unser Ohr; ein seltsam schwerer, süßer Duft umflutet uns, und wir sehen einen traumhaften Reichtum von hohen, schlanken morgenländischen Bäumen, üppige Büsche, Scharen goldener, strahlend gefiederter Vögel, lilienumrahmte Seen, Wiesen, die mit Veilchen, Tulpen, Mohn, Hyazinthen und Tuberosen übersät sind, weich gewundene Bänder silberner Flüßchen und, wie in seliger Verwirrung hier und da aufspringend, Bauwerke halb gotischen, halb maurischen Stils, die wie durch einen Zauber in der Luft zu schweben scheinen, mit Hunderten von Erkern, Minaretten, Zinnen und Bogenfenstern in der roten Sonne schimmern und das phantastische Werk aller Sylphen, Feen, Genien und mächtigen Zwerge der Welt zu sein scheinen.
MELLONTA TAUTA
Mellonta Tauta ()
An Bord des Ballons ›Lerche‹
. April
Nun sollst Du, mein lieber Freund, zur Strafe Deiner Sünden, diesen langen, schwatzhaften Brief lesen müssen. Ich erkläre Dir kurz und bündig, daß ich Dich ein für allemal für Deine sämtlichen Bosheiten peinigen will, indem ich so langweilig, so unzusammenhängend, so wenig ausführlich, kurz, so stupid unlogisch schreiben werde, wie nur eben möglich. Ich bin also hier mit ein- oder zweihundert von der ›Canaille‹ in einem schmutzigen Ballon zusammengepfercht, um eine Vergnügungsreise zu machen (was für eine drollige Vorstellung doch manche Leute von ›Vergnügen‹ haben), und freue mich der ›angenehmen‹ Aussicht, keinesfalls vor einem Monat wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Hier gibt’s keinen Menschen, mit dem man ein anständiges Wort reden könnte. Zu tun habe ich auch nichts.
Und wenn man nichts zu tun hat, dann kommt die Zeit, in der man mit seinen Freunden korrespondiert: nicht wahr? Du siehst also, was mich bewogen hat, Dir diesen Brief zu schreiben – nichts weiter, als meine Langeweile und Deine Sünden.
Putz dir jetzt also Deine Brille und fasse männlich den Entschluß, Dich gehörig langweilen zu lassen. Ich will Dir auf dieser langweiligen Reise nämlich jeden Tag einen Brief schreiben.
Du lieber Gott! Wann wird der Menschenschädel denn mal endlich eine vernünftige Erfindung machen? Werden wir denn auf ewig zu den tausend Unbequemlichkeiten einer Ballonfahrt verurteilt sein?
Wird niemand eine raschere Art der Beförderung entdecken? Dieser Hundetrab, zu dem wir hier gezwungen sind, kann einem wahrhaftig zur Qual werden. Du darfst mir glauben: seit dem Aufstieg haben wir noch nie mehr als hundert Meilen die Stunde zurückgelegt! Die Vögel überholen uns, manche wenigstens. Ich versichere Dir, daß ich nicht im geringsten übertreibe. Zweifellos kommt uns unsere Bewegung noch langsamer vor, als sie ist, da wir mit dem Winde segeln und keinerlei Gegenstände erblicken, an denen wir unsere Schnelligkeit messen könnten. Ich muß allerdings gestehen, daß die Sache sich nicht ganz so schlimm ansieht, wenn wir uns mit einem anderen Ballon kreuzen. Obwohl ich an diese Art von Reisen längst gewöhnt bin, kann ich mich doch eines Schwindels nicht erwehren, wenn ein zweites Luftschiff über uns dahinsaust. Es kommt mir dann immer vor wie ein ungeheurer Raubvogel, der sich auf uns stürzen und uns mit seinen Klauen davontragen will. Heute morgen bei Sonnenaufgang schoß eines so nahe über uns dahin, daß sein herunterhängendes Tau sich in das Netzwerk unseres Schiffes verfing und uns in ernstliche Gefahr brachte. Unser Kapitän teilte mir mit, daß wir sicher empfindlich zu Schaden gekommen wären, wenn das Material unseres Ballons die plunderhafte gefirnißte ›Seide‹ gewesen wäre, die man vor
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