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Erzaehlungen aus dem Nachlass

Erzaehlungen aus dem Nachlass

Titel: Erzaehlungen aus dem Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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wie eine Kugel, und da dehnte sich etwas nach rechts, – nach links, – wie Flügel: ein Vogel schien es ein großer, dunkler Vogel…
    Das kleine, arme Thier im Bauer zitterte. Es konnte sich nicht rühren, auch nicht schreien, und der Schnabel stand doch so weit offen!
    Da kam ihm auf einmal der Wald in den Sinn und Blättergrün und Sonnengold, und dann das kleine Mädchen, das immer mit ihm spielte, – und die Apfelschnitte, die sie ihm sonntags brachte, – und…
    Der große, schwarze Vogel hatte des Käfigs Stäbe durchdrungen. Er war ganz nahe. Immer tiefer sank er so schwarz, so schwer…
    Noch einmal schüttelte der gequälte Kleine seine Federn. – Er hob das Köpfchen, – da schlugen die Schwingen des schrecklichen, schwarzen Schattens ganz über ihm zusammen – ganz – ganz…
    »Mutter, Mutter!« fuhr Klein-Lisbeth in die Höhe.
    »»Was? Mein Kind.««
    »Mir ist so angst.«
    »»Wirst schlimm geträumt haben,«« begütigte die Mutter. »»Leg dich auf die andere Seite und schlaf wieder ein.««
    Das Kind gehorchte. – Stille. –
    Ruhige Athemzüge.
    Die Uhr tickt langsamer und schläfrig.
    Mählich wird es heller in der Nähe des Fensters. Graues Morgenlicht sickert durch die Scheiben. Endlich sieht auch ein Sonnenstrahl herein. Aber erschrocken fährt er zurück.
    Im Bauer auf dem Sande liegt seitlich hingestreckt das kleine Vöglein, den Schnabel offen. Die Augen und die Federn am Kopfe sind voll Sandes.
    Todt. –
    Lisbeth erwacht.
    Sie fährt mit der Hand über die weichen, schlafrothen Wangen.
    Langsam kniet sie auf im Eisenbettchen.
    Jetzt spricht sie ihr Morgengebet.
    Damit sie die Mutter nicht wecke, leise, – ganz leise – –
    *
    Ende.

Der Ball
    »Du bist mir unbegreiflich, Lisbeth.« Raunte die Witwe Frau Berg von ihrem Romanband unwillig aufblickend. »Einfach unbegreiflich – ein 16-jähriges Mädchen weigert sich den ersten Ball zu besuchen. Mein Gott, da war ich doch ganz anders in deinem Alter – und heute noch, heute noch freu’ ich mich auf jeden Ball – obwohl es lächerlich klingt – als Mutter einer so großen Tochter …« Die »große Tochter« schaute stumm in einen Winkel des geräumigen Zimmers. Und Frau Berg fuhr fort: »Es ist einmal die Zeit da, wo es Sitte ist dich der Welt, der Gesellschaft vorzustellen. Und ob es Dir nun zweimal genehm ist, oder nicht – gegen den Zwang, den althergebrachte Gepflogenheit und Lebensweise auf uns ausüben, darf man nicht ankämpfen. Was würden denn die Leute munkeln. Wie die Leute schon sind! Da heißts dann nicht, sie will einfach nicht. Da kommen dann lauter »aha« und Mutmaßungen. Willst du, dass wir uns unsterblich lächerlich machen?
    Lisbeth wippte ein wenig die vollen, runden Schultern. Die Mutter achtete dessen wenig. – Merk, Dir Kind; l’appetit vient en mangeant …« wenn du jetzt auch wenig Lust hast; – du hast eben noch keine Ahnung von der Art des Vergnügens, das jedem jungen Mädchen das höchste sein muss, – muss, sag’ ich. – Dein Kleid ist bereit. – Die Blumen sind bestellt, der Wagen fährt um 9 Uhr vor – bis dahin …«
    Sie ließ die Rede unvollendet und las weiter.
    Das blonde Mädchen aber ging leise und lautlos über den dicken dunkeln Teppich der Thür zu.
    Dort wandte sie sich noch einmal um.
    »Mama.«
    Keine Antwort.
    Und da drückte sie die Klinke herab und ging. Sie hastete über die schmale eherne Ringeltreppe in ihr kleines Stübchen. Dort schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte herzbrechend. – »Fräulein« stammelte die alte Martha, die gekommen war beim Ankleiden behilflich zu sein, – erschrocken, »Fräuleinchen, so in Thränen – heute?«
    Und jetzt löste sich die bange Angst wie eine Lavine von der Seele des Mädchens. – In übereilten, unverständlichen Worten stürzte hervor, was sie dunkel und unsicher fühlte.
    »Schau, Martha«, und sie legte den weichen Arm um die alte, treue Dienerin. »Ich bin sonderbar. Ich bin nicht wie die Andern. Auch auf der Straße, – wenn ein Mann mir nahe kommt da… ich bebe, weißt du, – und wenn mich jetzt ein Mann umfängt und an sich presst – ich fürchte… Martha, versteh mich, ich weiß nicht, was in mir ist. Ein Trieb… und keine Kraft… Martha, es wird über mich kommen wie ein Taumel, ein Rausch…Gott! Gott! Muss es denn sein. –«
    Die Alte schaute groß und verständnislos aus rothen, thränigen Liedern. »Kannst du das nicht begreifen, – drängte Lisbeth – ich sag dir in mir gährt ein so

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