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Erzaehlungen aus dem Nachlass

Erzaehlungen aus dem Nachlass

Titel: Erzaehlungen aus dem Nachlass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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das Weib.
    »Ja, Mutter…«
    Ann’ rang nach Luft.
    »Hab’ so Durst g’habt…«
    »Wirst du noch einmal?«… Die Mutter faßte ihn heftig am Arme und zog ihn empor.
    »Nie, nie«… flüsterte der Knab’ und begann von Neuem zu schluchzen.
    »Geh«, sagte sie ernst.
    Dann schritt sie langsam an’s Fenster. Mit starrem Blicke schaute sie hinaus.
    Der Kleine weinte laut.
    »Mutter, Mutter«, lallte er »sei nicht bös, verzeih… ich werde ja nie mehr…«
    »Versprich mir’s. Mir und dem lieben Gott!«
    »Ja.«
    »Du versprichst es?«
    »Ja, ja… verzeih.«
    »Will sehen, ob du’s halten wirst.«
    »Verzeih.«
    »Vielleicht. Jetzt mach deine Aufgabe. Wein’ nicht mehr.«
    Das Kind gehorchte.
    Zwei Stunden später brachte sie ihn zuruhe. Sie versagte ihm aber den Nachtkuß. –
    To schlief bald. Die Mutter aber lag vor dem Madonnenbilde auf den Knieen und flehte und weinte…
    *
II.
    Seit dem Tode des Tischlers Tonio waren zwei Jahre fast verflossen. Die junge Witwe hatte manchen Bewerber abweisen müssen. Besonders einer bedrängte sie hart. Er hatte früher als Geselle bei ihrem Ehegatten gearbeitet, und war jetzt selbständig; just die Ann’ wärs gewesen, die ihm so für seinen Hausstand gepaßt hätte. Aber die wollte nicht. Sie sagte ihm, er sei ihr ganz ein lieber Freund und Rater, aber heiraten möchte sie nicht mehr. Dessenohngeachtet kam er oft zu ihr und sprach nach Feierabend fast täglich in der ehemaligen Werkstatt vor. – Ann’ brachte immer zuerst den kleinen To zu Ruhe, küßte ihn recht von Herzen und sang ihm, obwohl er schon ein recht großer Junge war, ein Schlummerliedchen mit ihrer wohlklingenden Stimme. – Dann ging sie in das Nebenzimmer, wo sie tagsüber Wäsche wusch, plauderte ein wenig mit dem Franzi, dem einstigen Gesellen und kehrte vor Sperrstunde in die Schlafkammer zurück.
    *
    ‘s war an einem Winterabend. Die Mutter war eben in die vordere Stube getreten, da setzte sich To im Bettchen auf. Er schaute mit den großen Augen forschend umher und lauschte. Jetzt vernahm er die Stimme Franzi’s im Nebenraum. Rasch sprang er auf die Dielen. Lautlos lief er in die eine Ecke des Zimmers, holte dort unter allerlei Zeug und Tüchern eine Flasche hervor. Diese setzte er an die Lippen. Er that lange, hastige Züge daraus. Seine Augen glänzten unheimlich. Mit tierischer Gier sogen die roten Lippen den Branntwein. Dann bückte er sich und barg die Flasche an der alten Stelle. – In taumelnden Sprüngen erreichte er das Bett. Lautlos fiel er in die Kissen. In wenigen Augenblicken bezeigte der gleichmäßige Atem, daß er schlief…
    Im anderen Zimmer kämpfte Ann’ einen schweren Kampf mit sich selbst. Franzi wiederholte seinen Antrag ungestümer als je. Und sie war ihm wirklich ein wenig gut, dem herzlichen Burschen. Aber hatte sie nicht geschworen, nur für ihren To zu leben. Nur für ihn!? – Dieses Bewußtsein gewann die Obmacht. Sie erklärte dem Handwerker ihren Entschluß – reichte ihm die Hand, hieß ihn gehen – und nicht so oft wiederkommen. Er bestürmte sie nochmals. Allein sie blieb fest. Franzi ging. – Ann’ trat mit leichterem Herzen, die Augen voll Thränen, in die Schlafkammer. Sonst begab sie sich gleich zu Ruhe. Heute aber drängte es sie, noch bei ihrem Kinde zu verweilen. Sie trat an das Bettchen. Wie schön er schlief! Wie die Wangen gerötet waren. Sie kniete leise nieder. Sie neigte den Kopf zu ihm, – sie wollte ihn küssen – leise so wie ein Traum küßt.
    Da – was war das? War sie unsinnig? Der Athem, der diesen keuschen Lippen entfloh, roch nach Branntwein. Sie beugte sich noch mehr herab. Nein, es war keine Täuschung. Sie bebte an allen Gliedern.
    »To«, schrie sie »To!« Aber das trunkene Kind stieß nur einige unverständliche Töne aus.
    Sie vermochte ihn nicht aus dem Weinschlaf zu rütteln.
    Da erfaßte sie eine wahnsinnige Wut.
    Sie sprang empor, faßte den Kleinen am Halse und stemmte die Hände mit der ganzen, verzweifelten Kraft ein.
    Lallende Laute stiegen aus der Kehle des Kindes. Er schlug mit Händen und Füßen um sich.
    Ann’ aber ließ nicht nach. Sie preßte die Nägel fest in das Fleisch des Halses.
    Jetzt schauten sie ein paar verschwommene, trübe Augen ausdruckslos an.
    Das waren nicht mehr jene unschuldigen Augen. Das waren die Augen Tonio’s! Sie schrie auf, aber sie ließ nicht nach. Da traten diese Augen immer mehr aus den Höhlen, der kleine Mund öffnete sich weit, weit… Ein Ruck im ganzen Körperchen…

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