Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
ihm nur ein Bein ab, und das winzige blutüberströmte Tierchen, die sterbende schwangere Mutter kroch stumm auf Machmutow zu und biss in seine Kunstlederstiefel. Seine funkelnden Augen waren furchtlos und böse. Und der Geologe erschrak und floh auf dem Pfad vor dem Wiesel. Und ich denke, er kann zu seinem Gott beten, dass ich ihn nicht gleich auf dem Bärenpfad totgeschlagen habe. In meinen Augen war etwas, weswegen mich Machmutow auf seine nächste geologische Expedition nicht mitnahm …
Was wissen wir von fremdem Leid? Nichts. Von fremdem Glück? Noch weniger. Wir versuchen ja auch, das eigene Leid zu vergessen, und das Gedächtnis ist verlässlich schlecht bei Leid und Unglück. Die Fähigkeit zu leben ist die Fähigkeit zu vergessen, und niemand weiß das so genau, wie die Kolymabewohner, wie die Häftlinge.
Was ist Auschwitz? Literatur oder … nach Auschwitz hatte ja Stefa die seltene Freude der Befreiung erlebt, und dann kam sie, unter Zehntausenden anderen, als Opfer der Spionomanie in etwas Schlimmeres als Auschwitz, sie kam an die Kolyma. Natürlich, an der Kolyma gab es keine »Kammern«, hier zog man es vor, durch Frost zu vertilgen, »so weit zu bringen« – das Ergebnis war das allerermutigendste.
Stefa war Sanitäterin in der Frauen-Tuberkuloseabteilung des Häftlingskrankenhauses – alle Sanitäterinnen waren Kranke. Jahrzehntelang hatte man gelogen, die Berge des Hohen Nordens seien etwas wie die Schweiz, und »Opas Glatze« ähnele irgendwie Davos. In den Arztberichten der ersten Lagerjahre an der Kolyma wurde die Tuberkulose überhaupt nicht erwähnt oder extrem selten erwähnt.
Aber der Sumpf, die Feuchtigkeit und der Hunger taten das Ihre, die Laboranalysen bewiesen eine Zunahme von Tuberkulose, bestätigten die Sterblichkeit an Tuberkulose. Hier konnte man sich nicht (wie in Zukunft) darauf berufen, dass die Syphilis im Lager deutsch sei, aus Deutschland mitgebracht.
Tuberkulosekranke wurden jetzt ins Krankenhaus gelegt, von der Arbeit befreit, die Tuberkulose eroberte sich die »Bürgerrechte«. Um welchen Preis? Die Arbeit im Norden war schrecklicher als jede Krankheit – die Gesunden betrogen die Ärzte und ließen sich furchtlos in die Tuberkuloseabteilung aufnehmen. Sie nahmen den Auswurf, den »Rotz« von offenkundig Tuberkulosekranken, von sterbenden Kranken, wickelten diesen Auswurf sorgsam in einen Stofffetzen, steckten ihn ein wie einen Talisman, und wenn man die Analyse für das Labor machte – nahmen sie den fremden Auswurf »mit den segensreichen Stäbchen« in den Mund und spuckten in das vom Laboranten bereitgestellte Geschirr. Der Laborant war ein erfahrener und zuverlässiger Mann – was nach den damaligen Begriffen der Leitung wichtiger war als eine medizinische Ausbildung, er zwang den Kranken, den Auswurf in seinem Beisein auszuspucken. Jede Aufklärungsarbeit war umsonst – das Leben im Lager und die Arbeit in der Kälte waren schrecklicher als der Tod. Die Gesunden wurden schnell zu Kranken und nutzten schon auf gesetzlicher Grundlage den berüchtigten Liegetag.
Stefa war Sanitäterin und wusch, und Berge von schmutziger Nesselwäsche und der ätzende Geruch nach Seife, nach Lauge, nach menschlichem Schweiß und dem stinkenden warmen Dampf umgaben ihren »Arbeitsplatz« …
<1963>
Attische Nächte
Als ich den Feldscherlehrgang beendet hatte und anfing, im Krankenhaus zu arbeiten, war die wichtigste Frage des Lagers – leben oder nicht leben – gelöst, und es war klar, dass nur ein Schuss oder ein Axthieb, oder das auf meinen Kopf stürzende Weltall mich daran hindern werden, bis an die Grenze zu leben, die der Himmel mir gesteckt hat.
All das spürte ich mit meinem ganzen Lagerkörper, ohne jede Beteiligung von Gedanken. Vielmehr tauchte ein Gedanke auf, aber ohne logische Vorbereitung, als Erleuchtung, die die rein physischen Prozesse krönt. Diese Prozesse begannen in meinen ausgemergelten, gequälten Skorbutwunden – ein Dutzend Jahre vernarbten diese Wunden nicht am Lagerkörper, am menschlichen Gewebe, das eine Zerreißprobe durchgemacht und sich, zu meinem größten Erstaunen, einen kolossalen Kräftevorrat bewahrt hatte.
Ich stellte fest, dass sich die Formel des Thomas Morus mit neuem Inhalt füllte. Thomas Morus hatte in »Utopia« die vier Grundbedürfnisse des Menschen, deren Befriedigung nach Morus höchste Seligkeit bringt, so bestimmt: An die erste Stelle setzte Morus den Hunger – die Befriedigung von der verzehrten Nahrung; das
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