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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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schmerzhafter, den Rücken aufzurichten. Aber der Neuling nutzt manchmal diese illegale Art der Erholung, stiehlt dem Staat Minuten des Arbeitstags.
    Und dann schreitet der Begleitposten mit dem Gewehr in der Hand zur Entlarvung des gefährlichen verbrecherischen Simulanten. Im Frühjahr 1938 in der Goldmine des Bergwerks »Partisan« war ich selbst Zeuge, wie ein Begleitposten, mit dem Gewehr fuchtelnd, von meinem Kameraden verlangte:
    »Zeig deine Scheiße! Du setzt dich das dritte Mal hin. Wo ist die Scheiße?«, und er beschuldigte den halbtoten
dochodjaga
der Simulation.
    Scheiße fand man keine.
    Den
dochodjaga
Serjosha Kliwanskij, meinen Kameraden aus der Universität, die zweite Geige im Stanislawskij-Theater , beschuldigte man vor meinen Augen der Sabotage, der illegalen Erholung während des Stuhlgangs bei sechzig Grad Frost – beschuldigte ihn der Störung der Arbeit der Gruppe, der Brigade, des Abschnitts, des Bergwerks, der Region, des Staates: wie im bekannten Lied von dem Huf, an dem ein Nagel fehlt. Beschuldigt wurde Serjosha nicht nur von Begleitposten, Aufsehern und Brigadieren, sondern auch von seinen Kameraden bei der Arbeit, der heilsamen, alle Vergehen sühnenden Arbeit.
    Scheiße war in Serjoshas Darm tatsächlich nicht vorhanden; der Drang, sich »hinzusetzen« jedoch war da. Aber man musste Mediziner sein, und auch nicht von der Kolyma, sondern aus einer der Hauptstädte, vom Festland, von vor der Revolution, um all das zu verstehen und anderen zu erklären. Hier aber wartete Serjosha darauf, dass man ihn aus dem einfachen Grund erschießt, dass in seinem Darm keine Scheiße war.
    Doch Serjosha wurde nicht erschossen.
    Er wurde später erschossen, wenig später – an der Serpantinka während Garanins Massenaktionen.
    Mein Disput mit Thomas Morus hat sich hingezogen, doch er kommt zum Ende. All diese vier Bedürfnisse, die zertreten, zerbrochen, zermalmt waren – ihre Vernichtung war noch nicht das Ende des Lebens –, sie alle erstanden doch wieder auf. Nach dem Wiedererstehen – dem wenn auch entstellten, hässlichen Wiedererstehen jedes dieser vier Bedürfnisse – saß der Lagerinsasse über dem »Auge« und nahm mit Interesse wahr, wie etwas Weiches durch seinen wunden Darm kriecht, nicht schmerzhaft, sondern zärtlich und warm, und dem Kot schien es leid zu tun, sich vom Darm zu trennen. Wie er in die Grube fällt mit Gespritze und Geplätscher – in der Assanierungsgrube schwimmt der Kot lange obenauf und weiß nicht wohin: Das ist ein Anfang, ein Wunder. Schon kannst du sogar stoßweise urinieren, die Harnentleerung auf eigenen Wunsch unterbrechen. Und auch das ist ein kleines Wunder.
    Schon begegnest du den Augen von Frauen mit einem vagen und unirdischen Interesse – nicht mit Aufregung, nein, und ohne übrigens zu wissen, was dir für sie geblieben ist und ob der Prozess der Impotenz, man müsste richtiger sagen – der Kastration, umkehrbar ist. Impotenz bei Männern, Amenorrhoe bei Frauen ist die regelmäßige unausbleibliche Folge der alimentären Dystrophie oder einfach des Hungers. Das ist das Messer, das das Schicksal jedem Häftling in den Rücken rammt. Zur Kastration kommt es nicht duch die lange Enthaltsamkeit im Gefängnis und Lager, sondern aus anderen Gründen, direkteren und handfesteren. Die Lagerration ist des Rätsels Lösung, trotz aller Formeln des Thomas Morus.
    Wichtiger ist es, den Hunger zu besiegen. Und all deine Organe spannen sich an, um nicht zu viel zu essen. Du bist hungrig auf viele Jahre. Mühsam zerreißt du den Tag in Frühstück, Mittagessen und Abendessen. Alles andere existiert nicht in deinem Hirn, in deinem Leben, jahrelang. Für dich gibt es kein leckeres Mittagessen, kein reichliches Mittagessen, kein ordentliches Mittagessen – du möchtest immerzu essen.
    Doch es kommt die Stunde und der Tag, an dem du durch eine Willensanstrengung den Gedanken ans Essen, an Nahrung, daran, ob es Grütze gibt zum Abendessen oder ob man sie für das Frühstück am nächsten Tag übriglässt, von dir abwirfst. Kartoffeln gibt es nicht an der Kolyma. Darum ist die Kartoffel von der Speisekarte meiner gastronomischen Träumereien ausgeschlossen, prinzipiell ausgeschlossen, denn dann wären die Träume keine Träume mehr – sie wären allzu irreal. Die gastronomischen Träume der Kolymabewohner handeln vom Brot, nicht von Törtchen, von Grieß-, Buchweizen-, Hafer-, Graupen-, Magar- und Hirsegrütze, aber nicht von Kartoffeln.
    Ich habe fünfzehn Jahre

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