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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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keine Kartoffel im Mund gehabt, und als ich sie, schon in Freiheit, auf dem Großen Land, in Turkmen im Gebiet Kalinin kostete – erschien mir die Kartoffel als Gift, als unbekanntes gefährliches Gericht, wie einer Katze, der man etwas Lebensbedrohliches ins Maul schieben will. Bestimmt ein Jahr verging, ehe ich mich wieder an die Kartoffel gewöhnt hatte. Aber nur gewöhnt – genießen kann ich Kartoffelbeilagen bis heute nicht. Ich habe mich noch einmal davon überzeugt, dass die Empfehlungen der Lagermedizin, die »Austauschtabellen« und »Ernährungsnormen« auf zutiefst wissenschaftlichen Grundlagen fußen.
    Man denke, die Kartoffel! Hoch sollen sie leben, die Vor-Kolumbus-Zeiten! Der menschliche Organismus kommt ohne Kartoffeln aus.
    Akuter als der Gedanke ans Essen, an die Nahrung ist ein neues Bedürfnis, ein neues Verlangen, das von Thomas Morus ganz vergessen wurde in seiner groben Klassifizierung der vier Bedürfnisse.
    Das fünfte Bedürfnis ist das Verlangen nach Gedichten.
    Jeder gebildetere Feldscher, Arbeitskollege in der Hölle, hat ein Notizbuch, in das er mit zufälliger verschiedenfarbiger Tinte fremde Gedichte schreibt – nicht Zitate von Hegel oder aus dem Evangelium, sondern eben Gedichte. Hier zeigt sich, welches Verlangen hinter dem Hunger steht, hinter dem geschlechtlichen Bedürfnis, der Defäkation und der Harnentleerung.
    Das Verlangen nach Gedichten wurde von Thomas Morus nicht berücksichtigt.
    Und Gedichte findet man bei allen.
    Dobrowolskij zieht unter dem Hemd ein dickes schmutziges Notizbuch hervor, aus dem göttliche Klänge ertönen. Der ehemalige Drehbuchautor Dobrowolskij arbeitete als Feldscher im Krankenhaus.
    Portugalow, der Leiter der Kulturbrigade des Krankenhauses, verblüfft mit Proben seines wunderbar funktionierenden Schauspielergedächtnisses, das schon ein wenig geschmiert ist vom Öl der Kulturarbeit. Portugalow liest nichts ab – alles aus dem Gedächtnis.
    Ich strenge mein Hirn an, das früher den Gedichten so viel Zeit gewidmet hat, und sehe zu meinem eigenen Erstaunen, wie in meiner Kehle unwillkürlich von mir längst vergessene Worte auftauchen. Die Erinnerung kommt, nicht an die eigenen Gedichte, sondern an Gedichte meiner Lieblingsdichter – Tjuttschew , Baratynskij , Puschkin, Annenskij – in meiner Kehle.
    Wir sind zu dritt im Verbandsraum der Chirugie, in der ich als Feldscher arbeite und Wachdienst habe.
    Der diensthabende Feldscher der Augenabteilung, Dobrowolskij, und Portugalow, Schauspieler aus der Kulturabteilung. Es ist mein Raum und auch meine Verantwortung für diesen Abend. Doch an die Verantwortung denkt keiner – alles wird eigenmächtig getan. Getreu meiner alten, sogar ständigen Gewohnheit – zuerst tun und dann nach Erlaubnis fragen – habe ich dieses Lesen angefangen in unserem Verbandsraum in der septischen Chirurgie.
    Die Stunde des Gedichtelesens. Eine Stunde der Rückkehr in eine Zauberwelt. Wir sind alle bewegt. Ich habe Dobrowolskij sogar Bunins »Kain« diktiert. Das Gedicht war mir zufällig im Gedächtnis geblieben – Bunin ist kein großer Dichter, aber für die mündliche Anthologie, die an der Kolyma entstand, klang es ganz vortrefflich.
    Diese Poesienächte begannen um neun Uhr abends nach der Kontrolle im Krankenhaus und endeten um elf, zwölf Uhr nachts. Dobrowolskij und ich hatten Dienst, Portugalow durfte später kommen. Solche Poesienächte, die später im Krankenhaus den Namen Attische Nächte bekamen, veranstalteten wir mehrmals.
    Gleich stellte sich heraus, dass wir alle Verehrer der russischen Lyrik vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts sind.
    Mein Beitrag: Blok, Pasternak, Annenskij, Chlebnikow, Sewerjanin, Kamenskij, Belyj, Jessenin, Tichonow, Chodassewitsch, Bunin . Von den Klassikern: Tjuttschew, Baratynskij, Puschkin, Lermontow, Nekrassow und Aleksej Tolstoj .
    Portugalows Beitrag: Gumiljow, Mandelstam, Achmatowa, Zwetajewa, Tichonow, Selwinskij . Von den Klassikern – Lermontow und Grigorjew , den Dobrowolskij und ich eher vom Hörensagen kannten, erst an der Kolyma lernten wir den Wert seiner erstaunlichen Gedichte ermessen.
    Der Beitrag Dobrowolskijs: Marschak mit Übersetzungen von Burns und Shakespeare, Majakowskij, Achmatowa, Pasternak – bis zu den letzten Neuheiten des damaligen »Samisdat« . »An Liletschka anstelle eines Briefs« wurde gerade von Dobrowolskij gelesen, und auch »Der Winter naht« prägten wir uns damals ein. Die erste Taschkenter Variante des künftigen »Poems ohne

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