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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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achtunddreißig – er war zu groß, zu hochgewachsen für die Lagerration.
    Bären kamen mir nur im Zoologischen Garten echt vor. In der Tajga an der Kolyma und noch früher in der Tajga des Nördlichen Urals war ich mehrmals Bären begegnet, jedes Mal am Tag, und jedes Mal kamen sie mir vor wie Spielzeugbären. Auch in jenem Frühjahr, als überall das vorjährige Gras stand, und noch kein einziges hellgrünes Gräschen hatte sich aufgerichtet, und hellgrün war nur das Krummholz, und noch braun die Lärchen mit den smaragdenen Fingernägeln, und der Duft der Nadeln – nur die junge Lärche und die blühende Heckenrose riechen überhaupt an der Kolyma.
    Der Bär lief an der Hütte vorbei, in der unsere Soldaten, unsere Wache wohnte – Ismajlow, Kotschetow und noch ein dritter, an dessen Namen ich mich nicht erinnere. Dieser dritte kam im letzten Jahr oft in die Baracke der Häftlinge und holte sich von unserem Brigadier Mütze und Weste – er fuhr an die »Trasse«, um Preiselbeeren in Gläsern oder »im Ganzen« zu verkaufen, und in der Uniformmütze war es ihm peinlich. Die Soldaten waren friedlich, sie verstanden, dass man sich im Wald anders verhält als in der Siedlung. Die Soldaten waren nicht grob und zwangen niemanden zur Arbeit. Ismajlow war Ältester. Wenn er weggehen musste, versteckte er das schwere Gewehr unter dem Fußboden, drehte die schweren Lärchenblöcke mit der Axt um und rückte sie beiseite. Der andere, Kotschetow, hatte Angst, das Gewehr unter dem Fußboden zu verstecken, und schleppte es immer mit. An diesem Tag war nur Ismajlow zu Hause. Als ihm der Koch vom Erscheinen des Bären berichtete, zog Ismajlow die Stiefel an, griff sich das Gewehr und rannte in Unterwäsche hinaus – aber der Bär war schon in der Tajga verschwunden. Ismajlow und der Koch liefen ihm nach, aber der Bär war nirgends zu sehen, der Sumpf war morastig, und sie kehrten in die Siedlung zurück. Die Siedlung lag am Ufer einer kleinen Bergquelle, doch das andere Ufer war ein beinahe lotrechter Berg, spärlich mit Lärchen und Krummholzbüschen bedeckt.
    Der Berg war ganz zu sehen – von oben bis unten, bis ans Wasser – und schien sehr nah. Auf einer kleinen Lichtung standen Bären, der eine größer, der andere kleiner – eine Bärin. Sie balgten sich, brachen Lärchen ab, bewarfen einander mit Steinen, ohne Eile, ohne die Menschen unten und die Blockhütten unserer Siedlung zu bemerken, insgesamt auch nur fünf zusammen mit dem Pferdestall.
    Ismajlow in Nesselwäsche mit Gewehr, hinter ihm die Bewohner der Siedlung, jeder mit einer Axt oder einem Stück Eisen und der Koch mit einem riesigen Küchenmesser in der Hand, näherten sich den spielenden Bären von der Windseite. Es schien, als seien sie nahe herangekommen, und der Koch, das riesige Messer über dem Kopf des Begleitpostens Ismajlow schüttelnd, röchelte: »Schieß! Schieß!«
    Ismajlow stützte das Gewehr auf eine umgefallene faule Lärche, und die Bären hörten etwas, oder ein Vorgefühl des Jägers, des Wildes, ein Vorgefühl, das zweifellos existiert, warnte die Bären vor der Gefahr.
    Die Bärin stürzte hangaufwärts – sie lief schneller hoch als ein Hase, und das alte Männchen floh nicht, nein – es lief den Berg entlang, ohne Eile, den Schritt beschleunigend, nahm alle Gefahr auf sich, die das Tier natürlich ahnte. Ein Gewehrschuss knallte, und in diesem Moment verschwand die Bärin hinter dem Bergkamm. Der Bär lief schneller, lief durch den Windbruch, durch das Grün, das bemooste Gestein, aber hier schaffte es Ismajlow, noch einmal zu schießen – und der Bär rollte den Berg hinab wie ein Baumstamm, wie ein riesiger Stein, rollte direkt in die Schlucht auf das dicke Eis des Baches, das erst von August an taut. Auf dem blendenden Eis lag der Bär reglos, auf der Seite, und sah aus wie ein riesiges Kinderspielzeug. Er starb wie ein Tier, wie ein Gentleman.
    Viele Jahre zuvor lief ich mit einem Erkundungstrupp mit der Axt über einen Bärenpfad. Hinter mir ging der Geologe Machmutow mit dem Kleinkalibergewehr über der Schulter. Der Pfad umging einen riesigen, hohlen, halbverfaulten Baum, und ich schlug im Gehen mit dem Axtrücken an den Baum, und aus einem Astloch fiel ein Wiesel auf das Gras. Das Wiesel war der Niederkunft nahe und bewegte sich mühsam über den Pfad, ohne zu versuchen zu fliehen. Machmutow nahm das Kleinkalibergewehr herunter und schoss aus nächster Nähe auf das Wiesel. Umbringen hatte er es nicht können, er riss

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