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Es blieb nur ein rotes Segel

Es blieb nur ein rotes Segel

Titel: Es blieb nur ein rotes Segel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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das Brennholz für den Winter liefert, einen Stall voll Vieh … und dazu Freiheit, viel, viel Freiheit – wie der Adler unter den Wolken? Wäre das kein Leben, Matilduschka?« Er schwieg plötzlich so abrupt, als habe man seine Gedanken abgehackt.
    »Ein herrliches Leben, Borja!« Sie sah ihn betroffen an. »Warum redest du nicht weiter?«
    »Ich bin ein Narr!« sagte er heiser. »Sag, daß ich ein großer Idiot bin!«
    »Es kann doch alles so werden, Borjenka …«
    »Und dein Tanz? Du bist geboren für die Kunst, Matilda. Ich war verrückt!« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Sollst du zwischen Kornsäcken oder Futterrüben tanzen? Schwanensee beim Getreidedreschen … die große Polonaise rund um den Schweinestall … Ein pas de deux mit dem Rinderhirten …«
    »Vielleicht kann ich das Tanzen vergessen?« Sie fragte es betont, aber Boris hörte ihren eigenen Unglauben heraus.
    »Nie!« antwortete er. »Nie wirst du das können. Am dreiundzwanzigsten Dezember wirst du vor dem Zaren deinen ersten großen Triumph erleben!«
    »Oder eine klägliche Niederlage …«
    »Das kann gar nicht sein …«
    »Ich habe solche Angst vor diesem Abend, Borja. Ich möchte am liebsten vor ihm davonlaufen!«
    »Neun Jahre lang hast du für diesen Abend geschuftet, Tag für Tag, um dieses Ziel zu erreichen. Ich habe nicht vergessen, was Tamara Jegorowna zu dem Zarewitsch sagte: ›Matilda Felixowna, der Stern unserer Ballettschule‹. Und das heißt doch, der Stern am Himmel des Balletts. Weihnachten wird ganz Petersburg nur von dir sprechen!«
    Er schlug seinen Pelz um sie und sie gingen zu der wartenden Troika. Der gefrorene Schnee unter ihren Stiefeln zerbrach klirrend wie dünnes Glas. »Was ist ein kleiner Offizier aus niedrigem Adel gegen eine Primaballerina, der die Welt zu Füßen liegt? Ich sollte Angst haben, Matilda, nicht du!«
    »Ich liebe dich –«, sagte sie und lächelte ihn an. »Warum fragen wir soviel? Wir werden für immer zusammenbleiben, ob ich auf der Bühne oder in einem Stall stehe. Nur das ist wichtig.«
    Er hob sie wieder in die Troika, deckte sie mit den Fellen zu und küßte sie, während sie durch die Nacht in das wüste Stadtviertel fuhren, um das ein anständiger Mensch einen weiten Bogen schlägt.
    Das ist das nächste, dachte Boris, als sie die schmutzigen Gassen erreichten, die verwahrlosten Häuser mit den Kneipen und Spielhöllen, den Hurenzimmern und den Hehlerkellern: Sie muß hier heraus!
    Hier kann sie nicht länger leben. Man muß ihr eine schöne Wohnung besorgen, eine ganze Etage in einem der prächtigen Bürgerhäuser an der Moika, der Fontanka, den Kanälen oder draußen in Petrograd, wo man ländliche Häuser mit einem großen Garten mieten kann. Sie muß weg aus diesem Sumpf von Petersburgs Verbrechergassen.
    Vor dem Haus des Trödlers Minajew kreischten die Bremskufen der Troika auf dem Eis. Noch einmal küßten sie sich, dann lief Matilda, ohne sich noch einmal umzublicken, in den schwarzen Eingang.
    »Wohin jetzt, Euer Gnaden?« fragte der Kutscher. »In ein Tanzcafe?«
    »Zum Anitschkowpalast!«
    »Wie befehlen …«
    Boris Davidowitsch lehnte sich in den Pelzen zurück. Er hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, den Zwerg Mustin Fedorowitsch zu sprechen.
    Rosalia Antonowna saß ungeduldig auf dem Sofa und schaute mit wässrigen Augen auf die Tür, als sie den Schritt ihrer Tochter auf der Treppe hörte. Neben ihr, auf dem Boden, stand eine fast leer getrunkene Flasche. Eine Spezialmischung, doppelt so stark wie der normale Birkenschnaps. Man erkannte ihn daran, daß Rosalia häufig aufstoßen mußte.
    Der Magen, dachte sie voller Traurigkeit. Er verrät mich! Hat zuviel Säure! Lieber Himmel, was hatte ich früher für einen Magen! Ich konnte Nägel essen und schweißte sie im Magen zu Kugeln zusammen! Aber jetzt läßt er mich im Stich. Wird einfach sauer – schlimmer als Essig! Man muß sich quälen, einen Kohlstrunk zu verdauen, soweit ist es gekommen!
    »Komm herein!« rief Rosalia Antonowna. »Nur herein! Komm her, mein Täubchen!«
    Sie blinzelte, klopfte sich auf den Bauch und spreizte die Beine. Dann stützte sie die Arme auf die dicken Schenkel und grunzte böse, als ein Knopf ihrer Bluse absprang.
    So, in dieser Haltung, hatte sie einmal der große Kunstmaler Oleg Matwejewitsch Baldurian gemalt, ein flotter Armenier, dessen Porträts bei den Damen der hohen Petersburger Gesellschaft sehr gefragt waren. Selbst die Großfürstin Stana, die Frau

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