Es blieb nur ein rotes Segel
Wintersonne – alles schien in einem kalten Brand aufzuflammen – sich loslösend von aller Erdenschwere.
»Halten Sie bitte an, Boris Davidowitsch«, sagte Matilda leise. Sie hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt. »So habe ich Petersburg noch nie gesehen. Ist es nicht ein Wunder?«
»Das in drei Minuten vergangen ist!«
Boris von Soerenberg rief dem Kutscher zu. Der schrie zu seinen Pferdchen und zog die Zügel straff. Die Troika hielt gegenüber der Kathedrale. Die Olonez-Granitsäulen der mächtigen, berauschend schönen Kolonnaden warfen violette Schatten auf die vielen Statuen und Wandreliefs. Die an den Ecken stehenden Engelsgruppen, die in ihren Händen Fackeln trugen – sie wurden nur einmal im Jahr angezündet, in der Osternacht, wenn der Jubelruf aus den Kirchen über das ganze Land schallte: »Christ ist erstanden!« –, diese Fackeln brannten auch jetzt von den letzten Strahlen der sinkenden Sonne. Es war märchenhaft schön und erhaben.
»Sagen Sie kein Wort mehr, Boris«, flüsterte Matilda. »Was sollen hier noch Worte?«
Sie saßen stumm in der Troika, in dicke Felle gehüllt, und wurden ein Teil des vergehenden Wintersonnentages.
Sehr rasch verlor dann die Glut ihre Kraft und Farbe, die Schatten wurden länger, Grau und Blau mischte sich in das Leuchten, die Dunkelheit schob sich unaufhaltsam vor, nur die riesige goldene Kuppel der Kathedrale leuchtete am Ende noch immer vor einem streifig gewordenen Himmel.
»So schnell vergeht alles auf der Welt –«, sagte Boris leise. »Keine Stunde ist wiederholbar, nichts kann man zurückholen …«
»Bitte nicht.« Sie legte ihre kleine Hand über seinen Mund. »Es war so schön. Ich möchte in die Kirche … Gehen Sie mit?«
Er nickte, schälte sich aus seinen Pelzen und trug Matilda auf die Straße. Hand in Hand überquerten sie den Platz und betraten durch eine der riesigen Bronzetüren den gewaltigen Innenraum der Kathedrale.
Der Prunk überwältigte sie. Die Wände waren mit Platten aus farbigem Marmor verkleidet, die goldleuchtende Ikonostase wurde von Säulen aus Malachit und Lapislazuli getragen, die Malereien an den Decken, an den Seitenaltären, an den Wänden und im Kuppelraum machten stumm in der Erkenntnis, wie klein der einzelne Mensch in dieser Hymne an Gott wird.
Hinter der Ikonostase, unsichtbar, irgendwo im weiten Raum, zwischen dem Gewirr von Säulen und aus Marmor geschnitzten Wänden, an irgendeinem Altar, sang ein Männerchor. Es mußten Mönche sein, die den Abend einsangen und beteten, bevor sie in ihre Zellen zurückgingen. Ihre orgelnden Stimmen breiteten sich aus und vergingen dann in der schwindelnden Höhe der Kuppel.
Matilda kniete vor der Ikonostase nieder und senkte den Kopf. Boris blickte auf sie hinunter. Ein kleines Bündel aus Pelz, ein weißer Nacken, an dem sich das Haar nach beiden Seiten teilte und über die Schultern floß …
Mein Gott, ich liebe sie, dachte er. Unwillkürlich faltete er die Hände und sah zu einer großen Ikone hin, die, von Perlen und Edelsteinen umkränzt, in der Mitte der Ikonostase hing. Sie zeigte Christus, wie er Lazarus vom Tode erweckte. Mit hoch erhobenen Händen, die Jesus ergriffen hatte, steht der Tote von seinem Sterbelager auf.
Ich möchte leben, dachte Boris. Gott, hörst du mich? Ich möchte weiterleben, auch nach der Stunde bei Kramskoj. Nein, ich bitte dich nicht, mich siegen und ihn vernichten zu lassen, du würdest auch kein Ohr dafür haben, denn du kennst mich ja und weißt, wann ich das letztemal in einer deiner Kirchen gewesen bin. Freiwillig … Das meiste geschah dienstlich als Begleitung kaiserlicher Hoheiten. Aber nun bin ich bei dir, stehe vor dir und ich bitte dich, so wie du Lazarus vom Tode erweckt hast, laß mich weiterleben! Nicht für mich bitte ich, Gott … Für sie, die da vor dir kniet, nur für sie … Du hast sie geschaffen, ihre Schönheit, ihre Kunst, und du allein weißt ihren weiteren Weg. Laß mich sie begleiten, Gott! Hilf mir, an ihrer Seite zu bleiben, was auch in ihrem Leben geschehen mag. Verstehst du, daß ich liebe? Mein Gott, gib mir alles, was ich brauche, um einen Engel zu beschützen …
Er wartete ein paar Augenblicke, beugte sich dann hinunter und zog Matilda von den Knien hoch. Ihr blasses Gesicht kam ihm entgegen … die schmalen, geschwungenen Lippen, die kleine Nase, die großen, fragenden Augen. Er legte die Arme um sie und preßte sie an sich. Hinter der Ikonostase sang der Mönchschor, die Stimmen zerflatterten
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