Es blieb nur ein rotes Segel
dumpf in dem riesigen Kirchenraum.
»Sie können weglaufen vor mir«, sagte Boris mit zugeschnürter Kehle. »Sie können mich schlagen, mich wegstoßen, Sie können mir ihren weiteren Anblick verbieten … Aber ich liebe dich, Matilduschka … ich liebe dich …«
Sie nickte stumm, sie stieß ihn nicht weg, sie lief nicht davon und verbat sich nicht seine weiteren Besuche … Sie schloß die Augen, als er sie küßte, erst zaghaft, tastend, ihren Widerstand erwartend, aber als er sie zum zweitenmal mit all dem Glück küßte, das ihn durchströmte, da schlang sie ihre Arme um seinen Nacken und erwiderte den Kuß.
Es war ihr erster Kuß.
Ein fremdes, seliges, den Atem raubendes Gefühl – Hitze und Kälte, Taumel und helle Wachsamkeit.
Aber dann, als Boris Davidowitschs Zärtlichkeit sie ganz umhüllte, als dieses Erlebnis des ersten Kusses sie besiegte, als ihr bewußt wurde, daß sie in einer der schönsten Kathedralen Rußlands vor einer riesigen goldenen Ikonostase standen, vor der man demütig betet, aber wohl kaum an irdische Liebe denkt; als sie die Stimmen der Mönche hörte, die nun ihr letztes Abendlied sangen und damit, unsichtbar hinter der Altarwand, aus der Kirche zogen, als der Gesang langsam leiser wurde, sich dann unter der grandiosen Kuppel still auflöste – in diesem Augenblick völligen Glückes und der Ergriffenheit dachte sie an … Nikolai Alexandrowitsch!
An sein melancholisches Gesicht, an seine traurigen Augen, an seine weichen Hände und seine einschmeichelnde Stimme. Der Blitz, der sie damals getroffen hatte, hielt immer noch an …
Sie spürte Boris' Lippen, sie fühlte sich geborgen und wohl in seinen Armen, sie war glücklich – mehr aber nicht.
»Behalten wir es noch für uns«, sagte Matilda, als sie die Kathedrale verließen und durch die Kolonnaden auf die wartende Troika zugingen. »Sagen wir es Mama noch nicht. Man muß sie darauf vorbereiten. So einfach wird sie's nicht glauben. Immer wird sie denken, daß sich ein Hochwohlgeborener nur eine kleine Freude machen will. Es wird nicht einfach werden, Borja …«
»Wir werden heiraten!« sagte Boris von Soerenberg fest.
Matilda blieb ruckartig stehen und starrte ihn entsetzt an.
»Das geht doch nicht!« stammelte sie. »Das ist doch unmöglich.«
»Warum ist das unmöglich? Willst du nicht meine Frau werden?«
»Das habe ich doch gar nicht zu wollen!« Sie wischte sich mit zitternden Händen über das Gesicht. Aus ihren Haaren tropfte Tauwasser über ihr Gesicht. »Du darfst mich doch gar nicht heiraten.«
»Wer sollte mir das verbieten?«
»Dein Stand, Borja! Du bist Offizier der Garde, der Husaren von Zarskoje Selo – das ist das höchste, was man sein kann! Du bist ein Adliger, ein Baron. Deine Familie würde dich wegjagen! Denn was bin ich?«
»Ein Engel!« antwortete Boris beinahe feierlich.
»Ein Mädchen, das zusammen mit Ratten aufgewachsen ist.«
»Ich kenne jemanden, der wurde in einem Stall geboren und lag nackt in einer mit Stroh gefüllten Krippe …«
»O Himmel, lästere nicht!«
Sie schlug rasch ein Kreuz gegen Boris' Brust und blickte ängstlich eine der Engelsgruppen mit den Osterfackeln an. Es war jetzt fast schon Nacht, die hohen Gaslaternen brannten schon auf dem Prospekt.
Der Kutscher hatte eine Petroleumlaterne an den Bock der Troika gehängt und rauchte eine Pfeife. Am heißen Pfeifenkopf wärmte er seine Finger. Jetzt sah der Schnee schmutzig aus, zerfahren, zu häßlichen Klumpen verharscht.
Der Zauber des Sonnenuntergangs, der Glanz der Sonne, der alles in Schönheit verwandelte, war nur noch Erinnerung. Vom Finnischen Meerbusen her wehte ein eisiger Wind.
Neuen Schnee würde es nicht geben, dazu war es zu kalt, aber der Frost würde sich in alles hineinfressen und das tägliche Leben lähmen.
»Du kannst mich doch nicht heiraten«, wiederholte Matilda und sie sagte es ganz ohne Bitterkeit. Für sie war das selbstverständlich.
»Ich werde mich morgen beim Kommandeur melden lassen und ihm alles vortragen.« Boris Davidowitsch legte wieder den Arm um Matildas Schulter. »Und ich werde meinen Eltern schreiben, daß ich ein Mädchen liebe, das mir mehr wert ist als jeder Titel, jeder Adelsname! Macht es dir etwas aus, nur einen einfachen Soerenberg zu heiraten und nicht den Baron von Soerenberg?«
»Und deine Karriere am Zarenhof?«
»Wäre es nicht ebenso schön, ein paar Acker Land zu haben, ein Haus in einem Birkenwald, einen Weiher mit Fischen, einen kleinen Wald, der uns
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